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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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das schon immer aus dem Bild herausgesehen. Und alles begriffen hatte. Dieses Bild. Das war in New York gewesen. Im Metropolitan. Es war in der Mitte eines Raums präsentiert worden. Man war auf das Bild zugegangen. Wo hing das Bild sonst. Das war eine Singer-Sargent-Ausstellung gewesen. Und damals hatte sie der Vergewaltiger interessiert. Dieser Gynäkologe, den Sargent gemalt hatte. Im roten. Er trug etwas Rotes. Ein Morgenmantel. Kardinalrot. Sie hatte kardinalrot in Erinnerung. Und das Bild hing im Boston Museum of Fine Arts. Aber in Boston war sie noch nie gewesen. Und da saß sie nun. »Da sitze ich nun.« Sie sagte es laut. Sie schaute auf ihre Habseligkeiten. Die Tasche ein unförmiges Lederding. Sie hatte keine glatte Linie mehr. Aber trocken. Innen. Es war nichts in die Tasche ausgeronnen. Alles Flüssige und Schmierige war in den kleinen Täschchen geblieben. In den Beutelchen. Der Schmutz eingefangen. Die Täschchen nützlich. Die Täschchen hatten ihre Aufgabe erfüllt. Die Beutelchen waren zu Unrecht belächelt worden. Der Toni. Von Anfang an. Schon das erste Mal, als er sie etwas in ihrer Tasche suchen gesehen. Und sie ein Täschchen nach dem anderen herausgeholt und hingelegt. Bis sie das richtige gefunden. Und das war der Anfang gewesen. Er hatte sich neben sie gesetzt. Beim Suchen. Das war noch bei der Biggi gewesen. Und der Toni der Hausherr. Jedenfalls der Mann der Hausfrau. Und die hatte einen Auftrag für eine Ausstattung von einer Produktion haben wollen. Von ihr. Deswegen war sie eingeladen gewesen. Und die Beutelchen in ihrer Tasche. Sie war damals so total fertig gewesen. So total am Ende. Solche Dinge wie diese Täschchen. Solche Besonderheiten. Die hatte sie damals gebraucht, damit sie wissen konnte, dass sie existierte. Dass sie überhaupt existierte. Nach dem Robert. Und sie war dabei geblieben. Sie hatte sich nicht geändert. Aber die Täschchen mittlerweile von ihm. Er Lieferant dieser Täschchen geworden. Das Dior-Täschchen in New York gekauft. Das Schreibzeug von Horn in Wien. Die Hülle für das handy. Die hatte sie selber. Im Museumsshop von der Glassammlung in Düsseldorf. Das Schlüsseltäschchen hatte auch sie. Auf dem Flughafen in Zagreb. Aber das Etui für Visitenkarten und den Notizblock. Das hatte er. Bei Pineider. Seit 1774. In Rom. Die Mappe für die Papiere in Venedig. Sie fischte das handy aus der Hülle. Es sah ganz aus. In einem Almodóvar-Film hätte sie ihn anrufen können. Um diese Zeit. Bei ihm wäre es jetzt noch eine Stunde später. Und er würde reden. Er müsste reden. Er müsste das alles besprechen. Sie würden aneinander vorbeireden. Aber reden. Beide verzweifelt. Aber darin noch eine Übereinstimmung. Dieses Überhaupt-nichts-Sagen. Sie beugte sich über den Krampf um den Nabel. Sie wünschte sich einen Regisseur. Einen Filmregisseur, der ein solches Gespräch herstellte. Sie wünschte sich einen Schiedsrichter, der ihn zu einer Erklärung anhielt. Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie das handy abgeschaltet hatte. Nach dem Anruf vom Tommi. Oder nicht. Sie schob es in die braunseidene Hülle und steckte es in das Handyfach. Die Uhr. Auf der Uhr war es 3 Uhr und 12 Minuten. Das konnte stimmen. Sie hielt die Uhr ans Ohr. Ein leises Klicken. Hatte die Uhr es überstanden. Sie nahm die Papiere. Das Dior-Täschchen. Das Schreibzeug. Legte das alles aufeinander. Sie begann die anderen Dinge in die Tasche zurückzuräumen. Das pfirsichfarbene Lederetui für die Visitenkarten war platt. Geplättet. Die Façon verloren, dachte sie. Wie ich. Und so schlechte Metaphern. Aber. Ab 3 Uhr in der Früh. Sie dachte, sie sollte sich ab 3 Uhr am Morgen derart schlechte Metaphern erlauben. Alkohol nach 6 Uhr am Abend. Schlechte Metaphern ab 3 Uhr am Morgen. Ihre gebeutelten Beutelchen. Ihre zertretenen Sinnbilder der Weiblichkeit. Sie musste sich also von ihrem Gesicht und ihrer Schrift und ihrem Geschriebenen verabschieden. Trennen. Sie musste ihr Äußeres und ihre Äußerungen wegwerfen. Und über ihr. Über ihr grinste eine überlebensgroße Maus. Sie schaute hinauf. Sie stützte die Arme auf den Knien auf. Verbarg das Gesicht in den Händen. »Da sitzt du nun.« sagte sie in die Handflächen. Hinter ihr. Von oben. Musik. Laut. Die Geräusche der Bar. Die Menschen. Das Lachen und Reden. Die Geräusche verschwanden. Die Tür fiel wieder zu. Getrappel. Selma drehte sich um. Sah hinauf. Eine Gruppe junger Frauen kam die Stufen herunter. Sehr junge Frauen. Alle in Hosen.

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