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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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wollte weg sein, wenn dieser Kerl hier auftauchte. Vielleicht würde sie ihm absagen. Wenn das handy funktionierte, dann würde sie ihm absagen. Sie zog sich aus. Ging auf die Toilette. Sie stand vor dem Spiegel. Sie konnte sich die Zähne nicht putzen. Es ging nicht. Aber sie hatte ja kaum etwas gegessen. Morgen früh. Sie würde das am Morgen nachholen. Sie machte das Fenster auf. Schob die Vorhänge vor das offene Fenster. Die Luft von draußen heiß und feucht. Sie legte die Decke über das Bett. Zog den Deckenüberzug darüber. Sie wollte so weit wie möglich von der Matratze entfernt sein. Vom Bett aus drehte sie den Fernsehapparat auf. Die Braut ohne Beine saß im Rollstuhl vor der kleinen grauen Kirche. Selma schaltete aus.

23
    Sie wachte vor dem Weckerläuten auf. Es war hell im Zimmer. Heiß. Laut. Die Decke lag über ihrem Mund. Ohne Überzug. Die pelzige Kunstfaser nass. Ihr Speichel. Sie lag da. Die Haut feucht. Schwitzig. Der Mund ausgetrocknet. Die Zunge pelzig angeschwollen. Müde. Alles müde an ihr. Sie war in eine Müdigkeit aufgewacht. Der Schlaf alles überdeckt. Aber nur kurz. Zu kurz. Die Gliedmaßen schwer. Alles an ihr war schwer. Alles an ihr wusste sofort, wie es um sie stand. Sie war gleich in das Ende aufgetaucht. Die London-Reise gescheitert. Die letzte Chance vertan. Und sie hätte es wissen können. Wissen müssen. Sie hätte gleich in Wien bleiben können. Und versinken. Es war ein Versinken. Ein Versinken in ein Leben, das nichts bedeutete. Ein Leben, das nichts sagte. Nichts aussagte. Ein nichts sagendes Leben. Alle vier Jahre eine Stimme in irgendeiner Wahl. Und sonst. Die kleine Wohnung. Draußen. Irgendwo draußen. Billig und praktisch. Sie würde sich das so sagen. Billig und praktisch. Kein Auto. Nach diesem Auto keines mehr. Mit der Straßenbahn. Bahn. Bus. Landschaften nur mehr dort, wohin es eine Verbindung gab. Reisen. Reisen wohl nicht mehr. Kaum. Die billigen Flüge die Städte nicht billiger machten. Bücher in den Bibliotheken. Zeitung im Kaffeehaus. Beim kleinen Schwarzen. Ein Absteigerleben. Die Geschichte ihrer Familie. Billig essen. Das war das Einfachste. Keine Kultur mehr. Das war zu ertragen. Es laut haben zu müssen. Und eng. Keinen Platz mehr. Keinen Raum. Keinen Abstand. Sie für diese Bedürfnisse Strafe zu erwarten hatte. Diese Bedürfnisse niemand verstehen würde. Gerüche. Töne. Berührungen. Man durfte ihr nahe kommen. Weil sie es sich nicht mehr leisten konnte. Jeden Morgen wie jetzt. Jeder Morgen wie dieser. Der Straßenlärm tobend. Die Hitze den Mund austrocknend. Das Zimmer eng. Die Decke so tief über ihr. Sie drückte auf die Weckertaste. Der einzige Vorteil hier war, dass sie hinausmusste. In einer eigenen Wohnung. Sie wäre nicht aufgestanden. Sie wäre liegen geblieben. Die Kopfschmerzen. Ein schmaler Rand am Grund der Stirn. Gleich hinter den Augen. Die Kopfschmerzen hätten zu pulsieren begonnen. Zu schlagen. Hämmern. Und dann wieder schlafen. Dann hätte sie wieder schlafen können. In eine Bewusstlosigkeit verfallen. Und erst am Nachmittag aufwachen. Erst vom Durst aus dem Bett getrieben, sich im Badezimmerspiegel nicht erkennen konnte. Verquollen und doch hager. Und der Vater auf den Balkon herauskommen musste und sich besorgt äußern. Vorsichtig besorgt. Dass er sich ja nicht einmischen wolle. Aber dass sie. Ein regelmäßiges Leben. Am Morgen aufstehen. Und ob sie nicht mit ihm spazieren gehen wolle. Damit sie müde würde. Und schlafen könne. Und auch die Frau Doktor Sydler meinte. Und sie sich wegdrehte. Wegdrehen musste. Warum gab er nicht zu, dass er sie mit dem Vornamen ansprach. Warum sprach er vor ihr immer von der Frau Doktor Sydler. Und warum sagte er nicht. Warum sagte er nie, dass er sich Sorgen um sie machte. Sie lag. Der feuchtklebrige Kunststoffflausch der Decke gegen den Hals. Es ekelte sie an. Das war alles ekelhaft. Sie hatte längst abgeschlossen gehabt. Sie hatte sich längst nicht mehr so für sich selber interessieren müssen. Sie war erwachsen gewesen. Die Eltern ein abgeschlossenes Kapitel. Ihre Person. Sie hatte ein postmodernes Leben gelebt. Sie hatte ihre Bürgerlichkeit in die brauchbaren Fragmente zerlegt und in ein fließendes Leben gefügt gehabt. Sie hatte in einem Geflecht von horizontalen Beziehungen gelebt. Da, wo sie es sich einrichten hatte können. Da hatte sie ihre Vorstellungen durchgesetzt. Man hatte nicht geheiratet. Weil das Zusammensein eine immer neue Entscheidung bleiben hatte sollen. Man

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