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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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wollte sich nicht einlassen. Sie wollte nicht eingehen. Nicht auf diese Frau. Nicht auf Sheila. Nicht auf Gilchrist. Auf niemanden. Sie hatte keine Kraft. Sie hatte keinen Fassungsraum. Und sie bemühte sich nicht. Sie war nicht freundlich. Sie war nicht sozial. Sie war asozial. Sie wollte keine fremden Probleme hören. Sie wollte keine Probleme von anderen besprechen. Sie wollte nicht gesagt bekommen, dass andere auch Probleme hätten. Dass es noch andere Probleme gäbe. Auf der Welt. Dass es noch viel schlimmere Schicksale gäbe. Sie wollte, es gäbe nur sie. Nur ihre Probleme. Sie war total auf sich bezogen. Ihre Krise war die Krise. Und sonst keine. Keine andere. Ihre Tiefschläge waren interessant. Und sonst keine. Und niemandem auf der Welt. Keiner sonst war je solches Unrecht widerfahren. Sie war antisozial. Sie stand an der Tür und sah in den Raum. Sie fand es wunderbar. Die vielen Frauen. Nur Frauen. Wie sie im Halbdunkel standen. Gingen. Redeten. Tranken. Jede schön. Jede eine Schönheit. Ein Zustand von Schönheit und nur Frauen zugänglich. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Schwingtür. Der lang gestreckte Raum. Das dämmrige Licht. Eine Möglichkeit wäre gewesen, sich hinten auf ein Sofa legen. Sich hinlegen und schlafen. Und alle diese Frauen um sich. Reden. Und lachen. Und murmeln. Sie schob die Tür auf. Ging die Tür nach hinten schiebend hinaus. Sie hätte mit keiner dieser Frauen reden können. Ein Gespräch führen. Sich mitteilen. Aber sie war geschlechtslos. Sie stand in der Tür. Ihre Tragödie hatte sie ihr Geschlecht gekostet. Sie gehörte nirgends hin. Auch hierhin nicht. Sie lebte. Sie war am Leben. Aber nur am Leben. Sie ging hinaus. Sie sah sich selber. Ein Einsiedlerkrebs nach einer Schale suchend. Sie sah die Filmbilder. Naturfilmbilder. »Universum« oder »Discovery Channel«. Ein hellorange durchsichtiges Wesen. Auf dem Sand des Meeresgrunds huschend. Sich eine Hülle überziehend und schon wieder verborgen. Verfällst du jetzt in schlechte Metaphern, dachte sie. Und was für eine Beleidigung. Was für eine grenzenlose Beleidigung. Das war also der Ausschluss, an dem sie so zerschellt. Ein Grimm erfasste sie. Ein Ingrimm. Drinnen begann Musik. Alanis Morissette. Sie ließ die Tür zuschwingen. Hinter sich. Sie ließ die Musik hinter der Tür. Ließ die Musik im Raum zurück. Draußen war die Musik fast nicht zu hören. Sie ging die Stiege hinunter. Sie ging bis zum Stiegenabsatz. Sie setzte sich auf die Stufen. Vor dem Stiegenabsatz. Zu Füßen der Paraphrase auf »The Daughters of Edward D. Boit«. Im Schein des roten Kugellampenturms. Sie räumte ihre Tasche aus. Legte ihre Besitztümer auf den Stufen auf. Was zerbrechen konnte, war gebrochen. Zertreten. Zertrampelt. Die Lippenstifthülle. Die Puderdose. Der Spiegel in Scherben. Die kleine Tube Handcreme war aufgegangen. Das Kosmetikbeutelchen verschmiert. Der Verschluss der Augentropfen mit der Handcreme verkleistert. Im Schreibzeug die Tinte. Sie zog den Zippverschluss gleich wieder zu. Die Papiere. Die Unterlagen. Die Plastikmappe geknickt. Quer über die Seiten der Knick. Das Plastik weißbrüchig. Das Papier scharfkantig. Der Knick eingetrampelt. Der Pass der Länge nach. Sie öffnete den halbierten Pass. Der neue Falz quer über das eingeschweißte Bild. Bei einem dieser neuen Hochsicherheitspässe. Das Dokument wäre ruiniert gewesen. Die Zeile unten. Mit der Passnummer. Mit der der Pass in die Überprüfungscomputer eingelesen wurde. Die schien ganz geblieben zu sein. Der Pass sah aus wie ein kleiner Leporello. Sie legte ihn auf die Stufen. Die Geldbörse. Die Karten. Sie nahm die Karten aus den Fächern. Kreditkarten. Bankomatkarten. Autopapiere. Es schien alles in Ordnung zu sein. Die Geldbörse war flacher. Und das Logo der Taschenfirma als Zierschnalle war abgegangen. Selma sah zu dem Bild an der Wand hinauf. Aus der Nähe. Aus der Richtung, aus der sie es jetzt sah. Sie fand das Bild nicht mehr so delikat gemalt. Beim Hinaufgehen war es dem Original verwandter erschienen. Von schräg unten. Der Pinselstrich war ziemlich grob. Und von schräg unten hatten die 2 lachenden Figuren. Minnie im Reitkleid und das blonde kleine Mädchen. So, wie sie sie jetzt sehen konnte. Da hatten die beiden einen hohnerfüllten Zug um den Mund. Ein triumphierend grausames Lächeln. Aber wenn sie eines von den 4 Mädchen sein hätte müssen. Dann hätte sie sich ausgesucht, das Mädchen im roten Kleid zu sein. Das kleine Mädchen,

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