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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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hatte keine Kinder gehabt. Weil die Gestaltung der Welt nicht nur über diese Elternmythologie funktionieren sollte. Über diesen Besitz an kleinen Menschen. Diese Auftragserteilungen. Diese ewigen Auftragserteilungen. Sie sollten unterbrochen bleiben. Sie hatten sich nicht einen Sinn ihres eigenen Lebens über die Herstellung dieser fremden kleinen Leben beschaffen wollen. Sie hatte Freundschaften gehabt. Gleichwertigkeit. Das war alles hergestellt. Das war alles Arbeit gewesen. Jeder Bereich jederzeit zu bedenken. Und die Idee war doch gewesen, dass es nur genug solcher Leben geben musste. Dass die kritische Masse solche Leben lebte. Und dann breitete sich diese Lebensform von selber aus. Ein Gewebe. Über die Gesellschaft hin. Und mit ihrer Arbeit. Sie hatte gedacht, sie lieferte die Denkanstöße. Die Hinweise. Die Kritik. Sie vermittelte den Rahmen dieser Freiheiten. Dehnte die Freiheit aus. Die Freiheit in Überschreitungen beschrieben. Ein elegantes Leben hatte das sein sollen. Bedeutsam und darin elegant. Die Form-Inhalt-Problematik als Lebenslösung unaufgelöst jeden Augenblick bewusst. Und jetzt lag sie da und musste sich nach der Liebe ihres Vaters sehnen. Obwohl sie wusste, dass sie die nicht bekommen würde. Bekommen konnte. Bekommen wollte. Sie ging ohne Zähneputzen ins Bett. Wie eine bockige Sechsjährige. Sie hatte nur Depression und Selbstzerstörung zur Hand. Pubertät. Sie war in eine Pubertät zurück. Zurückgefallen. Zurückgestoßen. Sie drehte sich zur Seite. Und sag jetzt nicht, sagte sie sich. Sag jetzt nicht, dass das eine Chance wäre. Dass auch das Schlechteste, was einem im Leben widerfuhr. Dass das einen Sinn hatte. Die Wut über dieses Argument ließ sie sich aufrichten. Sich aufsetzen. Sie saß am Bettrand. Den ersten Teil der täglichen Selbstbeschuldigungen hatte sie hinter sich. Sie saß vorgebeugt. Sie dachte, ob sie schneller geworden war. Ob das Entlangrasen. Diese wütende Selbsterforschung. Dieses Register der Lebensgestaltung. Dass das doch sehr auf der Vorlage des Beichtzettels beruhte. Dass sie sich das Format ihrer Selbstverstoßungen überlegen musste. Sie war Atheistin. Sie hatte sich von der Religion getrennt. Sie sollte auf ihr Leben anders blicken können als in der Form dieser Sündensammlung. Die 10 Gebote und die Verstöße dagegen. Und in der Tradition der ersten Beichte, in der alle gegen alles verstoßen hatten, weil niemand etwas Genaueres über die Sünden gehört hatte. Und deshalb zur Sicherheit alles gebeichtet. Alles gestanden. Sie saß da. Richtete sich auf. Die Sünden waren nie beschrieben worden. Mord. Ja. Diebstahl. Aber die Unkeuschheit. Und das war ja auch klar. Die Beschreibung wäre schon die Sünde gewesen. Das musste in diesem Nebel bleiben. Das musste in diesem Nebel gehalten werden. Sie stand auf. Die Erkenntnis des Tages hatte sie auch schon, dachte sie. Oh, es war wunderbar, wie viel sie begriff. Sie ging ins Badezimmer. Und es war gleich wunderbar, wie sinnlos das war. Wie sie ihre Ohnmacht mit diesen wunderbaren Erkenntnissen ausschlug. Ausschlagen konnte. Und sich dabei ruinierte. Nichts trank. Oder nur Alkohol. Nichts aß. Außer Chips mit Essigaroma. Und dann ihre Tasche ruinierte. Obwohl sie sich so bald keine neue leisten würde können. Sie setzte sich auf die Toilette. Ihr Urin roch scharf. Der Geruch füllte das Badezimmer. Trinken. Sie musste mehr trinken. Und woher hatte der Tommi die Hoteladresse. Er musste noch einmal bei ihrem Vater angerufen haben. Oder er hatte sich gleich beim ersten Mal diese Adresse geben lassen. Und ihr Vater. Er gab gleich alle Daten weiter. Es war doch er gewesen, der die Hammerlings nicht gewollt hatte. Er hatte sich doch so komisch aufgeführt. Immer. Sie stand vor dem Spiegel. Sah sich an. Die Augen übergroß. Hohle Augenhöhlen. »Total dehydriert.« sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Total dehydriert.« Sie war zufrieden. Natürlich sollte sie mehr trinken. Aber es sah gut aus. Sie hatte schon lange nicht mehr so große Augen gehabt. Sie neigte nicht zu Schlupflidern. Die Mutter hatte sogar mit Kortison klare Augen behalten. Aber die Augenhöhlen waren so entwässert, dass die Haut die Lider gerade noch überspannte. Sie drückte Zahnpasta auf die Zahnbürste. Sie begann mit der Zunge. Sie bürstete die Zunge. So weit es ging. Ohne zu Erbrechen. Sie spülte die Zahnbürste ab. Nahm neue Zahnpasta und begann mit den Zähnen. Es war dumm, ohne Zähneputzen ins Bett. Es war widerlich. Aber es

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