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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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aushalten. Sie musste aufs Land. Sie musste in die Natur. Stadt. Das war zu anstrengend. Empfindlich wie sie gerade war. Oder sie stumpfte ab. Und das war es ja, was von ihr gewollt wurde. Und jetzt ging es zuerst einmal darum, das nicht zu erfüllen. Wenn sie ihre Empfindlichkeiten aufgab. Dann konnte sie sich vielleicht behaupten. Aber überleben. Überleben nicht. Und sie konnte es nicht. London. Sie konnte es hier nicht. Sie konnte nicht mithalten. Sie konnte sich ja am Flughafen hinsetzen und nachdenken. Nachdenken beginnen. Sie stand auf der Rolltreppe. Von unten der heiße Wind. Ein Zug weggefahren. Oder angekommen. Hier war es heiß. Hier unten. Keine Morgenkühle. Schwere, heiße Luft. Von den Zügen aufgerührt. Sie ging auf den Bahnsteig nach King’s Cross. Sie konnte von Paddington auch nach Oxford fahren. Sie konnte nach Oxford fahren und zu Blackwell’s gehen. Sie konnte den Tag in der besten Buchhandlung der Welt verbringen. Sie konnte einen Trauertag feiern. Ein Requiem für Bildungsbürgertum und Mittelschicht. Den Abschied von der Aufklärung. Warum sollte sie nicht in Oxford über sich nachdenken. Über ihre Möglichkeiten and the lack thereof. Oder doch einfach in die Piccadilly Line. Kein Umsteigen. Nur ein ewiges Dahin. Von Station zu Station. Und in Heathrow angekommen. Man war auf dieses Dahin so konditioniert, dass man kaum aus dem Zug kriechen konnte. Nein. Paddington. Der Bahnsteig war überfüllt. Selma stand hinten. Sie hatte es nicht eilig. Der nächste Zug war in einer Minute angekündigt. Der übernächste in 6. Das konnte sie abwarten. Sie machte Platz. Eine Frau mit einem Köfferchen drängte sich an ihr vorbei. Energiegeladen und rücksichtslos. Sie stieß die Menschen zurück. Stieß die Menschen an. Schob zur Seite. Sie war kleiner als Selma. Sie schaffte es, sich in den nächsten Zug zu drängen. Sie zwängte sich in die Menschenwand an der Tür. Ihr Koffer blieb in der Tür. Die Türen öffneten sich ein zweites Mal. Dann fand sich auch für den Koffer ein Platz. Die Türen schlossen sich. Der Zug fuhr ab. Der Bahnsteig war fast gleich voll wie vorher. Selma hoffte, dass der nächste Zug leerer war. Dass sie mit dem nächsten Zug mitkam. Sie hatte Zeit. Aber war ihre Bereitschaft, andere vorzulassen. War diese Bereitschaft schon eine Unterwerfung. Hieß das, dass sie dachte, die anderen wären wichtiger als sie. Die anderen. Die, die Arbeit hatten. Hatte sie die Unterscheidung in die Gruppe der Arbeitslosen schon vollzogen. An sich selbst vollzogen. Hatte sie den Raum, den sie beanspruchen durfte, schon selber eingeengt. Hatte sie das Geschäft der Selbstlähmung erledigt. Brav an sich erledigt. Sie ging nach vorne. Stellte sich an den Rand des Bahnsteigs. Ein Mann telefonierte neben ihr. Er erklärte jemandem, in welcher U-Bahnstation er gerade wäre. Und wie lange es dauern würde, bis er in Old Street sein könne. Es war privat. Selma dachte, dass er sich ankündigte. Bei jemandem. Ein Vormittag im Bett. Sie sah den Mann an. Er war unauffällig. Aber angenehm. Schlank. Mittelgroß. Dunkle Haare. Kurz geschnitten. Black Jeans. Ein dunkelblaues Leinensakko. Ein beige und hellblau kariertes Hemd. Eine Aktentasche unter dem Arm. Der Mann grinste. Amüsiert. Hörte amüsiert der anderen Person zu. Sein Alter. Selma überlegte. Sie schätzte Leute immer zu jung ein. Der Mann sah aus wie knapp an die 30. Also ging er wahrscheinlich auf die 40 zu. Warum blieben einem die Liebhaber nicht. Einfach so. Sie hätte Keith anrufen können. Aber dann. Keith war kein so guter Liebhaber gewesen. Und sich herumärgern. Über die Phantasielosigkeit. Bücher. Sie würde sich für Bücher entscheiden. Die Idee mit Oxford. Ein elegischer Tag in Oxford. Und Keith war vollkommen verschwunden. Sie wusste gar nicht, ob er überhaupt noch in London lebte. Und was geworden war. Mit der Frau aus seiner Jugend, die er dann wiedergetroffen hatte. Und den Telefonhörer abgelegt hatte. Damals musste man sich anders deklarieren. Technisch. Da hatte es kein Stummschalten gegeben. Oder mailboxes, auf denen alle Fäden zusammenlaufen konnten. Da hatte ein Telefon geklingelt. Da war das Abstellen gar nicht erlaubt gewesen. Da hatte der Vater dem Techniker von der Post hundert Schillinge zustecken müssen, damit man bei der Nachtschaltung herausziehen konnte und nicht die Tagschaltung automatisch läutete. Der Vater hatte das nie verändern lassen. Der Vater hatte diese Fehlschaltung gehütet. Damals war das

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