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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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Zug auf der King’s-Cross-Seite fuhr ein. Selma konnte ihn hören. Das Piepsen. Tuten. Die Ansagen. Das Zischen. Sie stand auf der anderen Seite. Sie tat, als gehörte sie dahin. Sie sah vor sich hin. Ihr Gesicht ohne Ausdruck. Sie hoffte, dass ihr Gesicht eine Maske war. Eine Maske bildete. Sie war starr. Innen. Versteinert. Das Entsetzen. Die Bestürzung. Die drei Männer. Sie war denen nicht als Person untergekommen. Für die war sie da irgendjemand gewesen. Ein Objekt. Aber das war es nicht. Es war das »old«. Es war das »old bitch«. Die Verachtung der Männer hatte sich darauf gestützt. Alter. Nicht jung. Alt-Sein. Das war die Eigenschaft, die diesen Männern zu Diensten gewesen war. Die diese Männer sich dienstbar machten. Und es war wirkungsvoll. Sie stand da und spürte die Worte. Hatte das Gefühl, unter den Worten gebeugt zu werden. Von den Worten mit scharfen kleinen Schlägen in die Knie gezwungen zu werden. Und dann war die Müdigkeit zurück. Es war nichts mit Oxford. Und es war ihr auch alles gleichgültig. Das beschwerende Elend fiel über sie hin. Kam mit der Demütigung mit. Sie stand da. Sie wusste, sie durfte das nicht ernst nehmen. Das konnte überall passieren. Aber sie wollte weg. Das konnte sie nicht. Wer kann das aushalten, dachte sie. Sie schaute nach vorne. Auf die Gleise. Schaute die riesigen Werbeplakate an der Rückwand an. Sie wehrte den Impuls ab, sich umzusehen. Zu schauen, wer diese Szene mitbekommen hatte. Ob jemand diese Szene mitbekommen hatte. Das auch noch, dachte sie. Das kommt zu allem anderen noch dazu. Sie trug sich selber vor, dass das nichts mit ihr zu tun hatte. Sie gab sich den Auftrag, sich zu fassen. Sie konnte sich nicht dazu bewegen, auf den anderen Bahnsteig zurückzugehen und ihre Pläne fortzusetzen. Eine absurde Angst hielt sie ab. Sie hatte plötzlich die Vorstellung, diese Männer warteten in King’s Cross auf sie. Sie führe eine diese endlosen Rolltreppen hinauf. An den Plakaten von »Mamma Mia« und »The Phantom of the Opera« entlang. Und die drei Männer stünden oben und schrien ihr »Fucking old bitch« entgegen. Die zwei würden das schreien und der Dritte lachte vor sich hin. Die Männer waren alle untrainiert gewesen. Fett. Sie hatten verweiblicht ausgesehen. In ihrem Fett. Aufgedunsen. Sie waren sicherlich den ganzen Tag damit beschäftigt, Bier in sich hineinzuschütten. Und sie nahmen sicherlich keine großen Anstrengungen in Kauf. Grausamkeiten. Das musste so kommen wie vorhin. Es ergab sich zufällig. Aber wenn der Bahnsteig nicht so belebt gewesen wäre. Selma schüttelte den Kopf. Warum hatte sie solche Phantasien. Aber nur die Vorstellung, von diesen Männern in die Ecke gedrängt zu werden. Ihren Atem ins Gesicht zu bekommen. Sie hatten Freude gehabt. An ihrer Bedrohung. Das war routiniert gewesen. Selbstverständlich vergnügt. Aber was war das an ihr, dass sie das so gut wusste. Es war richtig gewesen, wegzugehen. Nichts zu tun. Das »Sorry.« zu murmeln und davon. Sie war sicher, dass das Anstoßen. Dass das die Absicht von denen gewesen war. Aber entsetzt war sie über sich. Über das Ausmaß ihrer Verstörung. War sie so ein gutes Opfer. Hatte sie das Opfersein so gut gelernt. Musste man ihr nur ein solches Etikett geben und sie reagierte sofort. War sie so einfach zu demütigen. Es war hart, sich so bezeichnet zu hören. Aber das durfte sie doch nicht so aus der Bahn. Und sie durfte nicht ihre ganzen Pläne. Sie durfte sie nicht von solchen Leuten zerstören. Von solchen Diskriminierungen. Oder war das ganz einfach der Weg, wie man sich aus der Musik zurückziehen musste. War sie jetzt einmal verstört und versuchte sich noch zu wehren. Aber wenn man dann zu müde wurde. Beim hundertsten Mal. Wenn sie es dann regelmäßig hören musste. Sie war ja jetzt schon gewichen. Sie war ja jetzt schon auf den anderen Bahnsteig ausgewichen. Sie hatte gleich ihre Pläne aufgegeben. Sie konnte sich sagen, was für Hooligans das waren. Was für heruntergekommene Exemplare. Es blieb, dass sie vertrieben worden war. Sich vertreiben hatte lassen. Man konnte sie verletzen und diese Männer hatten das sofort gesehen und ihre Chance wahrgenommen. Das war ganz einfach. Und sie konnte sich vorsagen, was sie wollte. Sie war dem nicht gewachsen. Jetzt jedenfalls nicht. Sie hatte keinerlei Souveränität. Fassung, meine Liebe, sagte sie sich. Die Szene war schon verblasst. Ihre Reaktion war noch da. Dieser Schauer im Rücken. Sie ging nach hinten. Die

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