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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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die Schale rechts von der Sicherheitsschleuse. Wieder erklang der quietschende Warnton. Der Mann ging rückwärts zurück. Zog etwas aus seiner Gesäßtasche. Wieder der Warnton. Der Sicherheitsbeamte nahm den Mann beiseite. Selma schaute zu. Der Mann hatte seine Arme weit zur Seite gestreckt. Der Beamte ging in die Knie. Fuhr den Mann mit dem Stabmetalldetektor ab. Umspielte den Mann. Rasch. Routinierte Bewegungen. Umarmte den Mann beim Absuchen des Rückens. Der Beamte trat dann zurück und gab mit einer weiten Armbewegung den Weg frei. Der Mann ließ seine Arme sinken. Ging an das Band. Sammelte seine Besitztümer ein. Selma konnte durch die Glaswand zum Warteraum nur die Töne der Metalldetektoren hören. Alle anderen Geräusche gingen im Murmeln rund um sie unter. Der Mann neben ihr hatte den Kopf gegen die Wand gelehnt. Die Augen geschlossen. Die Frau stand. Selma beugte sich über ihr Buch. Wann würde dieses schlechte Gewissen aufhören. Sie musste nicht mehr Platz machen. Sie war nicht mehr das Schulkind. Sie musste nicht aufstehen. In der Straßenbahn. Für ältere Menschen. Das waren Erwachsene gewesen. Damals musste für alle Erwachsenen aufgestanden werden. Das war vorbei. Das machte niemand mehr. Und sie war selber erwachsen. Sie war jetzt eine der Personen, für die sie als Kind aufstehen hätte müssen. Sie hätte aufstehen müssen und dieser Frau den Platz anbieten. Mit einem höflichen kleinen Lächeln hätte sie ihr den Platz lassen müssen. Selma starrte auf das Buch in ihrer Hand. »Rita’s Recipe«. Von Valerie Vanhagen. Es sah nach einem Kochkrimi aus. Auf einem millefleur-Grund war in Reliefdruck eine Torte abgebildet. Rosa und weiß verziert. Der Titel des Buchs war in dunklem Rosa auf die Torte geschrieben. Als wäre er die Widmung. Als Apostroph des angelsächsischen Genitivs von Rita war eine kleine Injektionsspritze in die Torte gerammt. Ein dicker Blutstropfen quoll unter der Nadel aus dem weißen Zuckerguss hervor. Selma suchte nach dem Anfang. Sie blätterte. Wenn sie dieser Frau den Sitzplatz anbot. Neben ihrem Mann. Diese Frau würde sich nicht einmal bedanken. Sie würde sich setzen. Sie würde den Platz nehmen und nicht Danke sagen. Sie würde sie verachten. Für diese Höflichkeit. Sie drehte das Buch um. Las die Rückseite. »With Valerie Vanhagen the good old whodunit returns to crime fiction. In the quaint scenery of the english village crime runs rampant once again, complete with the parson, the major and the lady of the manor.« Sie blätterte. Suchte den Anfang. Die Autorin begann das erste Kapitel mit einem Zitat. Wahrscheinlich hatte jedes Kapitel ein solches Motto. Selma las die Verse nicht. Sie wollte nichts verstehen. Sie wollte ihre Augen die Zeilen entlangwandern lassen. Die englischen Sätze entlang. Aber sie wollte nichts erfassen. Nur lesen. »The veil protecting the pram floated in the light breeze down from the hills. The baby in the pram slept with the total abandon of the very young, its face concentrating on something inwards as if it was hard work to sleep and grow. Behind the pram the sea glittered in the September sun. From somewhere out on the open sea the cry of a seagull sounded. A shadow fell over the pram.« Selma schloss das Buch. Steckte es in die Tasche. Sie nahm den Rucksack und die Tasche. Stand auf. Stieg die Stufen zu den Toiletten hinunter. Die Tür zur Damentoilette hinter den Männern. Sie hatte Mühe, die Tür aufzuziehen. Vor dem Spiegel eine Frau. Dick. Sie befeuchtete ihre Fingerspitzen und fuhr sich die Augenbrauen entlang. Selma ging schnell an ihr vorbei. Sah die Frau sie ansehen. Im Spiegel. Selma ging in die hinterste Toilette. Sie verriegelte die Tür. Schloss sich ein. Sie hielt den Rucksack gegen die Toilettentür gepresst. Die Tasche in der Hand. Mit der freien Hand riss sie ein Stück Toilettenpapier ab. Sie legte das Papier auf die Tür. Lehnte die Stirn dagegen. Stand da. Den Kopf gegen die Tür gestützt. Den Rucksack im Bauch gegen die Tür gepresst. Die Tasche in der Hand. Die Frau hatte sich den Platz genommen. Da war sie kaum aufgestanden gewesen. Bei den ersten Bewegungen hatte die Frau sich angespannt. Für die Eroberung des Sitzplatzes. Beim ersten Verdacht, dass sie sich fertig machen könnte, den Sitzplatz aufzugeben, hatte diese Frau sich gestrafft. Angespannt. Zwischen sie und jede andere Person zu kommen, die in dem überfüllten Raum den Platz beanspruchen hätte wollen. Selma bekam kaum Luft. Sie musste

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