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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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Ausdruck. Sie fuhren durch Schläuche. Selma stellte sich den Querschnitt vor. Querschnitt. Da kam zuallererst der Zwergenbaum. Da fiel ihr als Erstes der Zwergenbaum ein. In einem Kinderbuch. Das Kinderbuch schon von der Mutter. Und die Mutter es schon geerbt gehabt hatte. Ein großes Bild. Ein Baum durchschnitten. Quer durchgeschnitten und die Wohnungen der Zwerge in diesem Baum zu sehen. Eine Wendeltreppe im Stamm und Gänge in die dicken Zweige und Stübchen und Küchen und Schlafzimmer. Die Zwerge hatten karierte Überzüge über dicke Daunendecken und hoch aufgetürmte Pölster in ihren Betten. Die Stuben waren holzgetäfelte Zirbenstuben gewesen. Die Küchen winzige Holzherde. Die immer noch winzigeren Zwerginnen standen mit langen blauen Schürzen in den Küchen an den Herden. Die Zwerge arbeiteten in kleinen Werkstätten an den Wurzeln. Schuster. Tischler. Schneider. Sie hatte dieses Bild in Erinnerung. Das Bild konnte die Fläche der Erinnerung ausfüllen. Dann wieder wurde es zum Bild in dem Buch und sie konnte ihren Finger sehen. Ihren Zeigefinger. Wie er auf die Dinge zeigte. Ihren Kinderfinger und wie sie sagte, was sie da sah und die Mutter hinter sich. Der Mutter sagte, was sie da zu sehen bekam. Das Buch. Das Buch war in der Wohnung gewesen. Das Buch war auch in der Maxingstraße gewesen. Das Buch war nicht in den 4 Koffern gewesen. Dieses Buch. Sie hatte alles verloren. In dem Augenblick, in dem der Anton das alles zugelassen. In dem Augenblick hatte sie alles verloren. Sie stand da. Sie stellte sich den Querschnitt vor. Oben an der Oberfläche London. Und in der Erde. Schmale Röhren, in denen winzige Züge dahineilten. Zischend und dröhnend und piepsend. Die Röhren untereinander tief hinunter in die Erde. Dahin, wo es schon warm wurde. Die Piccadilly Line am tiefsten. Tief am Grund. Und sie da. In einem der Züge ganz unten. Einen Augenblick lang das Ganze ein Bild. Sie in diesem Bild und Anton und die Ungarin zwei riesengroße Leute, die über dieses Bild auf dem Blatt eines Buchs gebeugt standen. Aber ihr Elend nicht sehen konnten. Sie sah hinaus. Die beiden musste sich tiefer über das Buch beugen, ihr Elend ausnehmen zu können. Sie sah sich im Fenster gespiegelt. Vor den schwarzstaubig rauen Wänden. Die Augen zu sehen. Die Augen das Licht widerspiegelnd am besten zu sehen. Das Buch war weg. Das Buch war weg wie alles andere auch. Und wahrscheinlich musste sie sich daran gewöhnen, wie ihr die Bandion das riet. »Gewöhnen Sie sich an den Verlust und lassen Sie sich alles mit Geld abgelten. Da haben Sie in Ihrer Situation mehr davon.« Und die Dr. Bandion hatte Recht. Das Buch. Das war eine Erinnerungshilfe. Sie musste sich an das Anschauen dieses Buchs und an die Mutter neben sich dabei. Daran musste sie sich auch ohne das Buch erinnern können. Was war es nur mit diesen Dingen. Warum waren ihr die so wichtig. War das, weil sie jetzt in ihrem Kinderzimmer sitzen musste und von der Kindheit nichts mehr da war. Nichts übrig geblieben. Ein Gästezimmer. Und in der Zwischenzeit das Krankenzimmer der Mutter gewesen. Das Sterbezimmer. Obwohl sie zum Sterben dann. Zum Sterben war sie dann doch ins AKH gekommen. Gerade noch zum Sterben dahin und das Zimmer deshalb nicht das Totenzimmer geworden. Selma stand da. Schaute hinaus. Sah sich im Fensterglas. Dann wieder nicht. Stationen. Sie zählte die Stationen. Der Zug wurde voller. Sie wurde in die Ecke gedrängt. Wenn die Türen auf ihrer Seite aufgingen, wurde sie von den Vorbeidrängenden an die Wand gepresst. Schultern an ihr vorbei. Arme. Hüften. Knie. Taschen. Plastiksäcke. Koffer. Rucksäcke. Kinderwagen. Sie fühlte nichts. Sie hatte sich das ruhig sagen können. Dass sie alles verloren hatte. Hier machte das nichts aus. Im Fahren machte das nichts. Auf die rußigen Wände des U-Bahn-Schlauchs starrend. Gegen die Fenster gepresst. Es war nur eine Tatsache. Knightsbridge. Sie musste erst bei der 6. Station aussteigen. Aber auf welcher Seite. Sie schaute wieder über die Tür. Man konnte sehen, dass die Stationen einmal rechts und dann links mit kurzen schwarzen Strichen markiert waren. Für Russell Square war der Strich für die Station auf der anderen Seite. Sie begann sich vorzuarbeiten. Sie drängelte in Richtung der anderen Türen. Die Menschen bewegten sich nicht. Sie standen. Fest und unbeweglich. Machten nicht Platz. Ließen die Aussteigenden sich durchpressen. Der Zug hielt. Selma war in der Mitte eingeklemmt. Die Menschen rund um

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