Entfernung.
Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Und er konnte es nicht sehen. Er schaute in das rosa Buch. Er deutete auf handgeschriebene Wörter. Auf kleine Zeichnungen. »For her daddy.« sagte er. Immer wieder. »She made this for her daddy.« Die Frau hatte wieder die Augen verschlossen. Der Kopf gegen die Scheibe hinter ihr. Die Arme hängend. Jetzt weiß sie, dass es nie funktionieren wird, dachte Selma. Sie schaute die Frau an. Das Gesicht vollkommen unbewegt und verschlossen und trotzdem war der Schmerz zu sehen. Als wäre die Luft rund um dieses Gesicht dünner. Als wäre es um ihren Kopf luftleer und alles genauer wahrnehmbar. Die großen Poren rund um die Nasenflügel. Der rosige Bogen der Wangenknochen. Der Strahlenkranz der weißen Fältchen außen um die Augenwinkel. Die Linien auf der Stirn. Das Gesicht ohne Regung. Ausgebreitet. Nur die Haut über die Knochen gebreitet. Auf die Knochen gelegt. Die Zeichen des Lebens, aber kein Leben. Der Mann schaute in das Buch. Er sprach. Deutete. Der Zug war wieder angefahren. Seine Worte nicht mehr so genau zu hören. Die Frau öffnete die Augen. Sie sah auf die Decke des Wagens. Dann auf die Plakate über den Fenstern. Sie starrte hinauf. Der Mann sprach weiter. Deutete weiter. Blätterte in dem Buch. Selma konnte eine Kinderhandschrift sehen. Blauer Kugelschreiber. Tief in die Seiten eingegrabene Buchstaben. Ungelenk. Das Kind musste klein sein. Erst zu schreiben begonnen haben. Die Zeichnungen waren winzig. Nicht größer als die Buchstaben. Der Mann sagte etwas Klagendes. Er klappte das Buch zu und starrte darauf. Er hielt das Buch in seinen Händen. Die Hände groß. Das Buch einhüllend. Die Frau setzte sich auf. Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer hellen Leinenjacke. Sie zog die Leinenjacke mit den Händen in der Tasche vorne zusammen. Sie hüllte sich in die Jacke ein. Verdeckte ihren Ausschnitt. Ließ den tiefen sonnengebräunten Ausschnitt des roten Sommerkleids unter der Jacke verschwinden. Die Frau saß da. Die Hände in die Taschen gebohrt. Die Schultern hochgezogen. Ihr Hals im Jackenkragen verschwindend. Der Mann wandte sich ihr zu. Er legte das Buch auf seine Oberschenkel. Er sah sie an. Er sah sie von der Seite an. Er stieß sie mit dem Kopf an. Er tupfte mit seinem Kopf gegen ihren. Seitlich. Er stieß sie an. Er spielte ein kleines Tier, das mit einem anderen spielen wollte. Er murmelte etwas dazu. Der Zug rasselte und schwankte. Arbeitete sich eine Rampe hinauf ins Tageslicht. Die Frau saß einen Moment steif. Starrte auf ihre Knie. Sie hob einen Fuß. Sah auf ihren Schuh. Sie trug schwarze spitze Pumps. Ein Riemen mit Querschnalle am Rist. Prada. Aber nachgemacht. Die Metallschnalle zu groß und dunkel gefärbt. Bei Prada waren die Schnallen silberglänzend. Die Beine der Frau leicht gebräunt. Geplatzte Äderchen über dem Knöchel. Die Frau schaute ihren Schuh an. Ihren Fuß im Schuh. Selma fühlte sich dieser Frau nah. Verwandt. Sie liebte diese Frau. In diesem Augenblick liebte sie diese Frau. Liebte das Leben dieser Frau in der Verletzlichkeit der geplatzten Äderchen über dem Knöchel. In diesem Augenblick verstand sie diese Frau. Und die ganze Geschichte. Selma hatte plötzlich Angst zu reden. Zu sprechen zu beginnen. Etwas sagen. Etwas zur Mühe des Lebens zu sagen. Sie war so offensichtlich. Die Mühe des Lebens. Und ohne diese Mühe. Nichts. Es wäre nicht gewesen. Ohne diese Mühe. Und diese Frau. Sie machte sich gerade ihr Schicksal. Diese Frau willigte gerade in ihr Schicksal ein. Diese Frau war tief eingetaucht in ihre eigene Zeit. Und Selma. Den Wunsch, die Frau an der Hand zu nehmen und in ein anderes Leben. Führen. Oder wusste diese Frau, was weiter. Wie weiter. Hatte sie im Hinaufziehen ihrer Schultern und im Verbergen ihres Ausschnitts versucht, auf sich selbst zu schauen. Und hatte eine Entscheidung getroffen. Selma musste tief Luft holen. Sie hatte zu flach vor sich hingeatmet. 2 junge Frauen neben ihr sprachen über ihre Wohnung. Wo sie wohnen sollten, wenn der Vertrag von ihrer jetzigen ausgelaufen war. Selma hörte den jungen Frauen zu und schaute auf das Paar gegenüber. Die jungen Frauen wollten mehr in den Süden Londons. Obwohl es von da weit zur Universität sein würde. Aber es war schicker. Bessere Geschäfte. Ruhigere Umgebung. Aber wollten sie wirklich in den babybelt, fragte die eine. Die andere lachte. Das wäre doch nett, sagte sie. Sie habe nichts gegen Babys. Und die englischen Kinder. Die wären doch so cute
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