Entfernung.
angezogen. So klassisch. Wie in Kinderbüchern sähen die doch aus. Der Mann gegenüber. Er starrte auf das rosa Buch in seiner Hand. Ließ den Kopf hängen. Die Frau fuhr ihm durch die Haare. Sie hielt seine Hände in ihrer Linken. Sagte etwas zu ihm. Er nickte. Sie sagte wieder etwas. Er nickte und lächelte. Sie sprach. Er nickte immer wieder. Sie sprach eindringlich. Beschwörend. Langsam. Selma überlegte. Ging es um ein Kind. Es sah so aus, als ginge es um ein Kind. Das ihm entzogen worden war. Und die, die es akzeptieren musste. War das die Mutter dieses Kinds. Und was sie akzeptieren musste, war ein neuer Lebensentwurf dieses Manns. Und war der neue Lebensentwurf diese Frau. Ein Leben mit dieser Frau. Musste diese Frau nun alles bedeuten. Musste sie ihm alles ersetzen und sein. Und war es das, was sie als unmöglich schon jetzt betrauerte. Oder war es die Erschöpfung vor dem Kampf. Wenn sie den Kopf so gegen die Fensterscheibe legte und die Augen geschlossen hielt. Der Zug fuhr. Im Freien konnte man sehen, wie schnell er dahinsauste. Rotziegelige Backsteinhausreihen. Baumgruppen. Wiesen. Grauweiße Häuserzeilen. Rußig geschwärzt. Nur kleine Höfe nach hinten. Hohe Zäune. Die Mansardenfenster staubig blind. Vernagelt. Möbel und Autoteile in den Höfen. In den schmalen Vorgärten. Ein Wald. Dichtes Grün. Gras unter den Bäumen. Wiesen. Golfspieler. Ein Herrenhaus in der Ferne. Hinter Bäumen. Eine Straße in Kurven auf das Haus zu. In Hammersmith stiegen Schüler ein. Die Schuluniform dunkelgrüne Hosen. Blaue Hemden. Dunkelblaue Blazer mit einem Wappen gold und rot auf die Brusttasche gestickt. Goldene Knöpfe. Eine Gruppe von 16-Jährigen. 17-Jährigen. Hellhäutig. Dunkelhäutig. Afrikanisch. Indisch. Ein asiatisch aussehender Jugendlicher. Er war groß und dünn. Er lehnte sich mit seinem Rucksack gegen die Rückwand. Stand gleich neben Selma. Der Jamaikaner saß neben der Tür auf der anderen Seite auf seinen Koffern. Er schlief. Er hielt sich an dem Haltegriff neben der Tür fest. Sein Kopf lag auf dem Arm, mit dem er sich fest hielt. Der Kopf hing gegen seinen Arm. Die Augen geschlossen. Sein ganzer Körper von den Bewegungen des Zugs geschaukelt. Gerüttelt. Der asiatische Jugendliche suchte etwas auf seinem iPod. Einer der anderen Schüler stieß ihn an. Fragte ihn etwas. Er zog einen kleinen Buben hinter den anderen Schülern hervor. Er hielt den Jüngeren am Kragen des Blazers fest. Hob ihn mitsamt dem Blazer ein wenig in die Höhe. Hielt ihn dem Jugendlichen mit dem iPod hin. Der Kleinere. Er trug eine Krawatte. Breite grüne und braune Streifen mit einem schmalen gelben Strich dazwischen. Der Kleinere lachte. Er strampelte in der Luft und lachte. Der Große schob ihn vor den jungen Mann mit dem iPod. Die Gruppe schloss sich um den Kleinen. Sie stießen den Kleinen. Boxten ihm auf den Rucksack. Der Kleine war ein Engländer. Ein helles Gesicht. Rosige Wangen. Strahlend blaue Augen. Die Haare schwarz. Er war klein. Gedrungen. Er war bei weitem der Kleinste in der Gruppe. Er musste zu allen hinaufschauen. Der iPod-Besitzer sagte etwas zu ihm. Der Zug zu laut. Selma konnte nichts verstehen. Sie konnte nur den Ton hören. Rau. Herausfordernd. Abfordernd. Selma dachte, dass der Kleine nun seinen Rucksack abliefern musste. Oder seine Schuhe. Der Kleine trug schwarze Lederschuhe mit dicken Gummisohlen. Glatte Oxfords. Das Leder glänzend. Klassische englische Lederschuhe in Kinderformat. Nur die überstehenden Gummisohlen ein modisches Zugeständnis. Die Gruppe drängte sich um ihn. Die Köpfe der so viel Größeren und Stärkeren ihm nach unten zugewandt. Die Gruppe öffnete sich. Die jungen Männer besetzten den ganzen Raum zwischen den Türen. Sie stießen den Kleinen herum. Stießen ihn von einem zum anderen. Ein Schüler in der gleichen Uniform kam von links herauf. Er stellte sich zur Tür. Der Kleine entwand sich den Größeren und fragte den anderen Schüler etwas. Der andere nur wenig größer als er. Er war blond. Schmal gebaut. Er wollte nicht angesprochen werden. Er gab dem Kleinen nur kurz Antwort. Der blonde Schüler hatte eine Wasserflasche in einem Netz an der Seite seines Rucksacks. Der Große, der den Kleinen zuerst herumgezerrt hatte, zog die Flasche aus dem Rucksack. Der Blonde bemerkte das gar nicht. Er stand da und wartete auf die nächste Station. Der Kleine nahm dem Größeren die Flasche aus der Hand und steckte sie in das Netz zurück. Der Blonde sah auf. Ärgerlich. Er
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