Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
Vom Netzwerk:
Rollstuhl anfahre. Genau zu diesem Zeitpunkt wäre es geschehen. Damals. Da sollte es eine Bikerhochzeit sein. Eine Bikertraumhochzeit. Und die Braut wäre auf das Motorrad ihres Bräutigams gestiegen, um zur Kirche zu fahren. Ein Motorrad war zu sehen. Dann die Braut im Brautkleid hinter einem Mann in einem schwarz glänzenden Motorradanzug. Das Foto blieb stehen. Nach nur wenigen Metern Fahrt habe der Brautschleier sich in die Speichen der Räder verwickelt, erklärte die Sprecherstimme. Bei diesem Unfall habe die Braut Pamela beide Beine verloren. Das rechte Bein unterhalb vom Knie. Das linke Bein oberhalb vom Knie. Vor dieser tapferen Frau liege auch jetzt noch ein langer Weg der Rehabilitation. Aber nichts konnte diese Liebe zerstören. Nicht einmal ein solch schrecklicher Unfall hatte es geschafft, dieses Paar auseinander zu bringen. Es wurden Bilder gezeigt, von Pamela im Krankenbett. Auf der Intensivstation. Dann mit Infusionsständer neben dem Bett auf der Station. Dann ohne Infusionsständer. Die leere Decke vor der Frau. Da wo die Beine sein sollten, die Decke flach. Dann im Rollstuhl. Dann bei der Physiotherapie. Die Beinstümpfe in abgenähten Trainingshosen. Die Person. Das Gesicht immer weit weg. Weit hinten in den Bildern. Die Aufmerksamkeit auf die Beine. Auf die fehlenden Beine. Dann redete die Frau selber. Sie sagte, dass nichts sie habe abbringen können. Dass sie keinen Moment gezweifelt habe. Dass sie es nun wieder versuchen werde. Dass sie ihren Michael nun heiraten werde. Michael kam ins Bild. Er war in Bikerkluft. Schwarzlederne Hosen. Bomberjacke. Hoch hinauf geschnürte Stiefel. Er werde seine Pamela nun heiraten. So werde der schrecklichste Tag in seinem Leben nun doch zum schönsten werden. Die Zuspielung war zu Ende. Die Szene vor der Kirche kam ins Bild. Die Sprecherin beugte sich zu der Frau im Rollstuhl. Die Kamera fuhr um die Frau und zoomte von vorne auf sie zu. Selma schaltete ab. Ihr war kalt. Sie war stehen geblieben, sich das anzusehen. Sie zog den Pyjama an. Sie zog die Decke vom Bett. Sie drehte die Acryldecke nach unten. Legte das Laken über die Decke. Sie stopfte die beiden Polster gegen die Wand hinter dem Kopfteil und legte sich hin. Von draußen fiel die Sonne von der Mauer gegenüber ins Zimmer. Goldleuchtend. Die Fassade gegenüber ein dunkles Gelb. Es war still. Das leise Summen der Klimaanlage. Rauschen in den Rohren im Badezimmer. Entfernt. Die Stadt draußen mehr zu fühlen als zu hören. Ein weit entferntes Vibrieren. Sie wachte in die Stimme auf. In die Erinnerung an die Stimme. Sie saß. Die Polster im Rücken. Der Kopf gegen die Wand. Das Genick geknickt. Das Kinn in die Brust gepresst. Sie konnte sich nicht bewegen. Die Stimme von hinter ihr in ihr. Die Stimme über dem Kopf. Schräg hinter dem Kopf. Der Kopf. Der Schädel außen. Gegen die Wand zu spüren. Sie kein Maß hatte für die Entfernung innen. Wo die Stimme sich dachte. Es war ihre Stimme. Es war die Stimme, die sie hörte, wenn sie sprach. Aber sie dachte das nicht. Sie dachte diesen Satz nicht. Die Stimme, die sie hörte, wenn sie sprach, sagte diesen Satz. Sagte sich diesen Satz. Ohne ihr Zutun. Unabhängig. Sie dachte nach, wo sie dachte, dieser Satz dächte sich. Sie versuchte, von der gegen die Mauer gepressten Hinterwand ihres Kopfs den Ort zu finden, an dem sich der Satz dachte und wo sie dachte, ihn zu hören. Sie sah vor sich. Sah ihre Brust entlang bis zum Fenster. Das Gold aus dem Licht verschwunden war. Die Sonne nicht mehr auf die Fassade gegenüber. Das Zimmer einen Ton dunkler. Die Dämmerung noch lange nicht, aber auch keine Sonne mehr herein. Sie wusste nichts. Sie lag da. Saß. Sie spürte sich da, wo sie auflag. Berührte. Sie lag regungslos. Die Hinterseite der Schenkel. Der Rücken. Das Genick. Der Hinterkopf. Sonst war nichts da. Nichts zu fühlen. Kein Herzschlag. Kein Rauschen im Ohr. Kein Hauch des Atems. Leer. Leer und weit. Die Leere hielt still. Farblos weit und die Grenzen unbekannt. Kein Gefühl, wie viel Leere sich ausbreitete. Wie weit. Aber auch eine Enge hätte sein können und nichts zwischen den Häuten. Nichts zwischen dem Rücken und dem Bauch unter dem pfirsichfarbenen Pyjamastoff. Sie sah vor sich hin. Starrte. Das Sehen. Der untere Teil des Gevierts des Fensters. Wolkig verschwimmend. Das Licht weiß trüb. Schwimmend. Hell undeutlich. Der pfirsichfarbene Stoff unverändert. Die Maserung des Stoffs. Die Oberfläche. Dahinter alles hell gedämpft. Nicht genau

Weitere Kostenlose Bücher