Entfesselt: House of Night 11 (German Edition)
können? Du bist mein Bruder, nicht meine Göttin.«
»Ich spreche für deine Göttin!« Erebos’ Licht flammte auf, so hell, dass selbst Kalona nicht umhinkonnte, sich Nyx’ göttlicher Macht bewusst zu werden, von der sein Bruder durchdrungen war. »Als du damals aus der Anderwelt verstoßen wurdest, hast du all jene Menschen, die sich große Mühe gaben, dir das Dasein angenehm zu machen, aufs Grausamste gequält. Bis Nyx ihre Schreie vernahm und die Gebete ihrer Weisen Frauen erhörte, indem sie ihnen die Macht verlieh, das in ihnen schlummernde göttlich Weibliche zu bündeln und zu nutzen. So ward A-ya erschaffen, die dich über viele Generationen hinweg gefesselt hielt.«
»Ich kann mich hervorragend daran erinnern«, knurrte Kalona. »Ich brauche weder dich noch Nyx, um mir diese finstere Zeit ins Gedächtnis zu rufen.«
»Schweig, du Narr! Ich komme mit einem Erlass der Nyx!«, donnerte Erebos. »Ich rufe dir nicht jene Zeit ins Gedächtnis, sondern den Grund für sie. Du hattest deine Göttin zurückgewiesen, und im Bestreben, sie zu ersetzen, nahmst du dir unzählige Frauen und verstießest sie wieder, bis A-ya erschaffen wurde. In ihr erkanntest du Nyx’ Lebensfunken. Darum warst du verwundbar für sie. Darum liebtest du sie.«
Kalona wandte den Blick ab. Noch vor kurzer Zeit hätte er die Worte seines Bruders hochmütig abgestritten und diesen mit Hilfe seiner unsterblichen Macht aus der Welt der Sterblichen zurück in die Anderwelt geschleudert. Doch Kalona hatte sich verändert. Die Wahrheit in dem, was sein Bruder sagte, fügte ihm mehr Schmerz zu als das unbarmherzige Licht, das Erebos seiner Mutter, der Sonne, verdankte. Und so stand der geflügelte Unsterbliche stumm und reglos wie eine Statue, während die von Nyx’ Macht erfüllten Worte seines Bruders weiter auf ihn einprasselten.
»Aber es hielt dich nicht in der Gefangenschaft. Von Erde umschlossen, in den Armen derjenigen, der von Nyx Leben eingehaucht worden war, sehntest du dich weiter nach dem, was du aufgrund deiner Arroganz verspielt hattest. Und so sandtest du schmeichelnde, flüsternde Rufe aus, suchtest nach anderen von Nyx Berührten, um die Leere in dir zu füllen. Neferet war seit dem Moment, da sie Gezeichnet wurde, etwas Besonderes für Nyx, nicht trotz, sondern gerade wegen des Grauens, das sie erdulden musste. Doch war sie als Jungvampyrin in der Tat noch nicht gefestigt. Und darum war sie empfänglich für deinen Ruf. Darum konntest du sie, nachdem sie sich gewandelt hatte, überreden, dich zu befreien.«
Kalona wäre nur zu gern geflohen, hätte sich vor den verletzenden Worten seines Bruders verschlossen, doch etwas tief in ihm zwang ihn zu bleiben und den Erlass zu hören, der in Nyx’ Namen durch Erebos an ihn erging.
»Weil aber auch Neferet keine Inkarnation der Göttin, sondern lediglich von ihr berührt war, konnte auch sie die Leere in dir nicht ausfüllen. Dieses Versagen wurde zu einem Gift, das sie verdarb. Leugnest du, dass du sie zu lieben glaubtest, genau wie zuvor das Mädchen A-ya?«
»Ich leugne nichts und gebe nichts zu. Verkünde deinen Erlass und weiche von hier. Dein Geschwätz ist ermüdend.«
»Blick in dich hinein. Nicht mein Geschwätz ermüdet dich. An dem Tag, an dem du dir die Wahrheit eingestehen und die volle Verantwortung für all die Übel auf dich nehmen kannst, die durch dich in diese Welt kamen, an dem Tag wird deine Bürde dir leichter werden.« Der Zorn in Erebos’ Stimme ebbte ab, doch der machtvolle Glanz der Göttin um ihn loderte weiter. »Dann trafst du die Jungvampyrin Zoey Redbird. Sofort fühltest du dich von ihrem Band mit Nyx ebenso angezogen, wie es dich erzürnte. Du wolltest sie verführen und vernichten.«
»Ich tat nichts von beidem!«
»Nur weil Zoeys Band zu Nyx stark und sie – anders als A-ya – eine reale Frau mit eigenem Willen ist. Und anders als Neferet besitzt sie eine gesunde, starke Seele. Zoey Redbird ist aufrecht und treu, dennoch haben deine Taten sie fast vernichtet. Vergiss nicht, dass du die Seele dieses Mädchens zerbrachst. Vergiss nicht, dass du in die Anderwelt eindrangst und so den Zorn von Nyx heraufbeschworst. Dies war der Grund, warum die Göttin zugunsten ihrer Tochter eingriff.«
Wieder sah Kalona zur Seite, als er an jenen kurzen, bittersüßen Moment dachte, da Nyx ihn noch einmal mit ihrer Gegenwart beehrt hatte.
Sie hatte ihm nicht vergeben, und Kalona hatte bittere Tränen der Reue geweint.
»Diese Verfehlungen habe ich
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