Entfesselt: House of Night 11 (German Edition)
nicht aus freiem Willen begangen. Neferet hielt meine Seele gefangen und zwang mich mit der Macht der Finsternis, ihr zu dienen.«
»Wieder Neferet. Was sie heute ist, wurde nur durch dein Zutun möglich. An dir ist es, sie aufzuhalten. Hier ist der Erlass unserer Göttin!« Erebos machte eine weit ausholende Geste. Das goldene Licht der Sonne gleißte auf und brannte sich als flammende Lettern mitten in die Luft ein.
Er, der einstmals mich aus ganzem Herzen liebte
soll besiegen nun, die tief mein Herz betrübte.
Für die Leidenden erschalle mein Gebot:
Todeskrieger, schütze jene, die in Not!
Ist sein Herz für Einsicht und für Güte offen,
darf auf neue Gnade, neue Gunst er hoffen …
Erebos stützte die Hände auf die hölzerne Tischfläche und beugte sich vor, bis sein Gesicht nur noch wenige Zoll von dem seines Bruders entfernt war. Kalona spürte die Hitze seines sonnendurchfluteten Körpers und roch den Sommerduft seines Atems, als er sprach.
»Ich würde ja sagen, ich hoffe, dass du versagst, aber ich verschwende meine Hoffnung nicht. Ein unsterbliches Wesen zu besiegen erfordert ein Opfer von mindestens gleichem, wenn nicht höherem Wert als die Unsterblichkeit. Du bist zu großem Zorn fähig, zu maßloser Gewalt und zu zerstörerischen Schlachten. Zu großen Opfern warst du noch nie bereit. Du wirst versagen. Der Schmerz dessen, was deine Fehler angerichtet haben, wird weiter an Nyx zehren, und ich werde sie auch forthin trösten und für sie da sein.«
Es war Kalona unmöglich, seinen Zorn länger im Zaum zu halten. Mit einem Wutschrei fuhr er so heftig auf, dass sein Sessel nach hinten kippte, und er ließ mit einem gewaltigen Händeklatschen einen Stoß gefrorenen Mondlichts zwischen seinen Händen hervorschießen. Das kalte silberne Licht brachte Erebos’ sonnengoldene Sphäre zum Erlöschen. Mit einem Zischen, wie wenn ein Schmied ein glühendes Schwert ins Wasser taucht, verschwand der Sohn der Sonne.
Im nächsten Moment klopfte es an die Tür, und in der vollkommenen Stille erklang deutlich Darius’ Stimme.
»Kalona? Dürfen wir kurz mit Euch sprechen?«
Sechs
Kalona
K alona stellte den umgefallenen Sessel wieder aufrecht hin, setzte sich, strich sein Haar zurück und holte tief Luft. »Tretet ein.«
Als er Stark und Zoey hinter Darius sah, musste er ein verärgertes Stöhnen unterdrücken. Obwohl Zoey und er eine Art Waffenstillstand geschlossen hatten, war ihr Verhältnis unbehaglich. Und Stark war schon immer ein lästiger Heißsporn gewesen, und dass Kalona ihn in der Anderwelt mit einem Speerstoß getötet hatte, machte es auch nicht besser.
Zoeys Blick schweifte von Kalona zu der gläsernen Sonnenblume in der Vase und dem großen Wandteppich, der die ganze Wand hinter ihm einnahm und ein schwarzes Schiff mit einem zähnefletschenden Drachen als Galionsfigur zeigte. »Mann, ist das krass. Überall stehen noch Dragons Sachen, und mittendrin sitzt du.«
»Beklemmend«, sagte Darius leise, als sei ihm das Wort gegen seinen Willen entschlüpft.
»Eher bedenklich, würde ich sagen«, sagte Stark. Sein Ton war dreist, als genieße er es, den Unsterblichen zu reizen.
Es ist der Splitter der Unsterblichkeit, den er mit mir teilt, der ihn so kühn macht – und so lästig,
dachte Kalona.
Ich frage mich, wie kühn der Junge noch wäre, wenn er wüsste, dass dieser Splitter eine Sonde ist, durch welche ich jederzeit in seine Seele eindringen kann?
Kalona überhörte die Bemerkungen, nahm sich aber vor, die Sachen des alten Schwertmeisters auszuräumen. Es war längst Zeit, Raum für Neues zu schaffen. »Du wünschtest mit mir zu sprechen, Darius?«
»Ja. Wir alle«, berichtigte der Krieger.
»Wissen Sie etwas von einem Keller hier an der Schule?«, fragte Stark.
Kalona schüttelte den Kopf. »Da die Gebäude des House of Night alt sind, nehme ich an, dass es einen gibt, aber ich habe ihn nie gesehen.«
»Also waren Sie und Neferet nie dort?«, fragte Zoey.
Er sah sie an, suchte in ihren dunklen Augen jenes Mädchen aus ferner Vergangenheit, das er einst gekannt hatte. »Sich unter der Erde aufzuhalten, hat sich für mich als heikle Erfahrung erwiesen, der ich mich gewöhnlich nicht allzu gern aussetze.« Absichtlich legte Kalona eine sinnlich-neckende, wissende Note in seinen Ton.
Stark trat beschützend zwischen ihn und Zoey. »Sie haben den Kern der Frage nicht verstanden.«
Kalona lächelte ihn mit feinem Spott an. »Vielleicht hast ja du den Kern meiner Antwort nicht
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