Entfesselte Energien (Band 1)
möglich war.
Der Offizier schien das nicht zu sehen, wartete auch keine Antwort ab, sondern fragte nachdenklich weiter: „Glaubst du, dass es hier einen Naturforscher gibt, der eine Aufgabe aus der Kriegstechnik zu lösen imstande wäre?“
„ Welche Aufgabe?“, fragte Tess, plötzlich elektrisiert.
„ Wir suchen einen genialen Erfinder“, sagte der Major, vor Tess stehen bleibend, „der eine Möglichkeit findet, feindliche Flugzeuge aus jeder Höhe herunterzuholen. Du kannst dir denken, dass uns die überlegenen Luftflotten unserer Feinde, die uns von allen Seiten umgeben, große Sorge bereiten.“
Tess dachte nach. „Ich werde mit Riemenschneider sprechen.“
„ Wer ist Riemenschneider?“
„ Ein junger Privatdozent – vielleicht ist er inzwischen schon Professor geworden – der schon jetzt, obwohl er eben anfängt, auf dem Gebiet der Atomforschung sich einen bedeutenden Namen gemacht hat. Von Berlin und von Amerika hat er schon höchst ehrenvolle Anträge erhalten.“
Major von Rechberg sah auf die Dielen und fuhr dann lebhaft auf: „Bitte, gib mir seine Adresse und – hat er schon etwas veröffentlicht?“
Tess gab ihm eine Broschüre von ihrem Bücherbrett. „Das ist das Letzte, aber es wird bald ein größeres Werk von ihm herauskommen.“
„ Darf ich mir das mitnehmen? – Ich bin dir sehr dankbar Tess. – Leider habe ich keine Zeit mehr, aber wir sehen uns hoffentlich bald wieder in Berlin!“
Mit kurzem, herzlichem Abschied ging der Major fort. Lange noch stand Tess und starrte auf die Türe, die er leise und behutsam hinter sich zugezogen hatte. Aber sie dachte nicht daran, ans Fenster zu gehen, um ihm nachzuschauen. Ich danke dir, sagte sie in tiefer Bewegung. Du bist sehr klug – ganz gewiss bist du klug, aber viel mehr bist du fromm. Nicht fromm wie die Leute, die in die Kirche laufen und wie die Herrn im schwarzen Talar, die in der Kirche predigen. Vielleicht gehst du nie in die Kirche? Aber du bist fromm wie Mörike. Wer eine andere Frau ansieht, des Begehrenswegen, der hat schon in Gedanken Ehebruch begangen. Ich glaube, dass du aber in dieser kristallenen Sauberkeit lebst und nicht mal dies wagst.
Es klopfte an die Türe, sie wusste, dass es ihre Wirtin war, die ‘‘Tante Amelie’’, aber sie öffnete nicht. Sie schob sogar sachte den Riegel vor. Ich bin noch nicht mit ihm fertig, dachte sie. – Ob er mich vielleicht versteht, wenn ich ihm alles sage, was zuhause geschehen ist und was man von mir verlangt? Ich will’s versuchen, wenn ich – vielleicht bald nach Berlin komme. Er könnte meine Sache besser vertreten als ich selbst. Aber dann müsste er Energie haben, mehr als ich. Sie schüttelte traurig den Kopf. Hat er nicht! Seltsam! Der Fluch scheint auf allen Frommen zulasten. ‘‘Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdenreich besitzen!’’ Mir scheint’s nicht. Wo ich jemanden sich durchsetzen sah, hat er’s nur mit seinen Ellenbogen geschafft. Sie ballte ihre kleine Faust. Hilf dir selbst Tess! Keiner nimmt dir das ab.
Sie schob den Riegel zurück und ließ ihre Wirtin eintreten. Sag ich ’s, oder sag ich’s nicht, fragte sie sich. – Ich werd’s ihr sagen, antwortete sie sich, aber kein Lamento dulden.
Wie hart sie spricht, dachte die gute Frau, viel Liebe scheint ’s auf dem Schloss nicht gegeben zu haben. O, du armes Mädchen! Was hat sie nun von ihrem Reichtum, ihrer Schönheit und ihrer blaublütigen Abstammung! Sie ging bald wieder hinaus. Womit sollte man solche Menschen trösten!
Aber Tess wollte auch nicht getröstet werden. Der beste Trost ist die Arbeit, dachte sie und schlug ihre analytische Chemie auf. Sie vertiefte sich noch einmal ganz in die qualitative Analyse, die sie längst an den Kinderschuhen abgelaufen hatte, wie sie meinte. Aber erst an diesem Abend wurde ihr klar, warum die Leichtmetalle soviel schwieriger zu erkennen sind als die Schwermetalle. Rebellen schienen es ihr zu sein. Verbrecher in der Welt der Materie. Kerle mit allen Hunden gehetzt. Dieses Magnesium, das Kalzium und nun gar die abgefeimten Blutsbrüder Natrium und Kalium! Man müsste ihre Atome nackt sehen, nichts Frecheres und Schamloseres gäbe es im ganzen weiten Reiche der Natur. Sie kamen ihr vor wie Radaubrüder, die eben aus dem Wirtshaus kommen und mit jedem auf der Straße sich zu prügeln anfangen. Die ganze Nacht träumte sie von den frechen männlichen Atomen und den ebenso zuchtlosen Weibern: Chlor, Jod, Sauerstoff und
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