Entfesselte Energien (Band 1)
Salpetersäure.
Mit schwerem Kopf wachte sie am nächsten Morgen auf. Und jetzt mich in Trauerkleider stecken und zu Riemenschneider in die Vorlesung gehen ? Sie sah auf den Stundenplan: natürlich Chemie! Und sogar Praktikum! O Gott, das ist unmöglich! – Aber ohne Trauerkleider? Ist ausgeschlossen. Ganz undenkbar. Und schwänzen? Zuhause bleiben? Einen Spaziergang machen? – Nein, ich will arbeiten! Auf und fort! Nicht links und nicht rechts sehen!
Als Tess zur Vorlesung kam, saßen schon alle, der Professor müsste sofort kommen. Einen Augenblick dachte sie: gut, dass ich so spät gekommen bin! So bin ich sicher vor ihrer Teilnahme. Aber gerade das Gegenteil war der Fall; wie auf ein Kommando drehten sich alle nach ihr um und – es gab eine solche Bewegung im Hörsaal, dass sie am liebsten wie ein Kind ihr Gesicht hinter einer Schürze versteckt hätte. ‘‘Marie-Therese’’, dieser Inbegriff von Lebensfrische und Energie, dieser Springquell von allen guten Geistern, die stets Jubel und sonnige Heiterkeit in weitem Umkreis um sich verbreiteten, dieses unerschöpfliche Reservoir von sprudelnder Lebensfreude war auf einmal verschwunden. In schwarzer Kleidung, mit umso bleicheren Wangen, mit schwarzen Augenringen und bitter harter Miene, saß sie da, eine wahre Grabesstimmung ging von ihr aus. Ein Raunen und Zischeln lief durch die Bänke und alle Mienen wurden ernst. Wenn Riemenschneider nicht in diesem Augenblick eingetreten wäre, hätte wohl eine der älteren Semester sich ein Herz gefasst und im Namen aller Anwesenden kondoliert. Das unterblieb nun freilich, aber die Stimmung war doch so, dass das Beifallsgetrampel für den geliebten Lehrer heute sehr mager ausfiel. Und seltsam, als ob die Gedanken aller Anwesenden nach der einen Richtung wiesen. Riemenschneider verstand sofort den Grund, schaute hin und erschrak. Die Verwandlung, die er dort gewahrte, war so ungeheuerlich, dass selbst er schwieg, der nie für einen Augenblick den Faden verlor. Aber er vollendete nun, was die anderen nur gewollt hatten; mit leiser, fast andächtiger Stimme bat er: „Meine Herrn, ich bitte Sie, sich noch einmal von den Plätzen zu erheben und durch eine Minute des Schweigens den Angehörigen zu ehren, den eine der Unseren wohl durch den Tod verloren hat.“
Tief dankte Tess im Herzen, aber alle ihre Kraft musste sie zusammennehmen, nur diese Minute stark bleiben! Messerscharf stand die Falte zwischen den Brauen und ihr Blick wurde wie stahl. Doch ihre Furcht war unbegründet, keiner wandte sich um; mit einer Kraft, die ihm niemand zugetraut hätte, hielt Riemenschneider alle Blicke in seinem Bann. Dann winkte er, sich wieder zu setzen und hielt seinen Vortrag, als ob nichts geschehen wäre. Sein Vortrag war von einer fesselnder Spannung, einen brillanten Redefluss, dass kein Blick sich von ihm abwenden, kein Gedanke von seinen Worten abwandern konnte. Der Beifall am Ende der Stunde war so, dass das Fehlende vom Beginn dreifach wieder eingebracht wurde.
Riemenschneider ging nur zögernd hinaus und auf de n Flur, als alle sich um Tess zusammenzudrängen drohten, war er auf einmal mitten unter ihnen, nahm sie unter seine Fittiche und führte sie in sein Laboratorium. Er wies sie auf seinen Schreibtischsessel, die einzige gepolsterte Sitzgelegenheit in diesem Raum und reichte ihr stumm, in innigem Miterleiden seine Hand.
Tess sah aufmerksam diese Hand an, die schon soviel gefährliche Apparate gehalten, der die Vernichtung durch Brand, Säure und Explosion schon so oft gedroht hatte, diese starke Hand, die schwere Ballons voll ätzender und giftiger Stoffe mit der gleichen Sicherheit ausgosst, mit der sie ein Kapillarröhrchen in eine winzige Öffnung führte. Diese von keiner Sachlichkeit getötete, noch immer dezent gegliederte, lebendige und empfindsame Hand! Wie gerne hätte Tess sie einmal an sich gezogen! Sie wagte es nicht. So neigte sie sich nur darüber.
Dachte er, dass sie einen Kuss darauf drücken wollte? Er zog sie schnell zurück, ein wenig lächelnd, auch ein bisschen verlegen. „Ich darf das nicht mehr“, raunte er, wie um sich zu entschuldigen, „ich bin – so – gut – wie verlobt.“
Tess sah ihn groß an. Du lieber, lieber Kerl, dachte sie ganz innig. Ihre Augen standen voll Tränen.
Schnell wandte er sich ab und ging in die entfernteste Ecke, nach dem Abzug. Während er sich nach dem Schränkchen unter dem Abzug bückte, sprach er noch zu Tess zurück: „Ja, die Lore! Die liebe Lore!
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