Entfesselte Energien (Band 1)
wieder ab. „Alter Zeus, sieh dich vor! Das tränken wir dir noch mal ein!“
„ Natürlich nur von dem Reutlinger kann’s ausgehen!“
„ Dem Ichthyosaurus!“
Die Fäuste ballten sich, es wären noch weitere kernige ‘‘Fremdwörter’’ gefolgt, wenn nicht eben Franz Sellentin, der blonde Recke, ihnen in den Weg gelaufen wäre. Herzliche Begrüßung und erneute Feststellung, dass der Tag ganz blendend werden würde. Tess gebot Ruhe und verteilte die Plätze; Korrens und Wedekamp wurden kurzerhand mit einbezogen als alte, getreue Schildknappen Riemenschneiders. „Sie passen auf den langen Zeus auf. Korrens links. Wedekamp rechts! Franz, du nimmst Perikles auf dich!“
Alle lachten. Einer erinnerte an Äneas und den guten Papa Anchises. „Ich werde ihn keine Sekunde aus den Augen verlieren“, schwor er.
Man trennte sich im Angesicht der Universität. Schon nahten die Schulhausmeister in ihrer roten Amtstracht.
Dass Ve tter Leo aus Berlin nicht kommt, dachte Tess noch bei sich. Sie hatte ihm noch einmal telegrafiert. Als Tess in die Aula trat, wunderte sie sich über die große Fülle zu dieser frühen Stunde. Das war noch nie da gewesen. Sogar die Damen waren sehr reichlich vertreten, worüber sie ein bisschen lächeln musste. Sie sah sich dann genauer um und, wie immer vor großen Ereignissen, suchte sie die vorherrschende Stimmung mit ihrem sechsten Sinn zu erahnen, um daraus die Prognose für den mutmaßlichen Verlauf zu stellen. Ein bisschen steckte das germanische Sehertum doch noch in ihr. – Nun, im großen ganzen war die Tendenz freundlich, zumindest war eine wohlwollende Neugier vorherrschend. Nur in einem beschränkten Kreis, in dem der lange Zeus und einige andere ‘‘alten Knacker’’ dominierten, war Ablehnung und sogar Spott zu spüren. Es rechneten sich zu diesem Kreis der Gegner auch einige, offenbar sehr fromme Damen und sogar ein Häufchen von Studenten, durchweg ältere Semester, bei denen wohl das bevorstehende Examen die Gefühle und Sympathien etwas gefärbt hatte.
Die bei Weitem überwiegende Menge der Studenten aber, die sich bis auf das Podium drängten, suchten mit den Augen nach dem ‘‘Perikles’’ und, als er eben endlich die Halle betrat, ging eine freudige Bewegung, die mehr und mehr zu einem dumpfen Brausen anschwoll, durch die Menge der Teenager. Diese den Meereswogen ähnliche Bewegung riss ganz unwiderstehlich auch die übrigen im Saal mit; alle Hälse reckten sich und dann brach ganz spontan ein begeisterter Jubel los, der gar nicht mehr zu bändigen war. Tess musste sich auf die Lippen beißen und die Fäuste ballen, dass sie nicht grad hinausschrie, wie sie ‘‘Ihn’’ sah, der ganz gelassen seinen Weg durch die Menge ging, ohne zu danken, ohne auch nur zu lächeln, als ginge ihn das alles gar nichts an. Die hohe Stirne ein wenig gesenkt, die Augen auf den Boden gerichtet, als versuche er mitten in dem Gewühl noch schnell einen Gedanken zu Ende zu denken. Erst als er an der vordersten Reihe der Bänke, an dem für ihn bestimmten Platz angekommen war, sah er auf, warf einen kurzen Blick über die Versammlung, lächelte herzlich und setzte sich.
Tess suchte nach den Freunden und Mitverschworenen, ob sie ihre Plätze eingenommen hätten. – Richtig, der Siegfried stand zwischen Riemenschneiders Platz und dem Podium. Und dort hinten – wahrhaftig! Korrens und Wedekamp hatten sich in den Kreis der Gegner hineingezwängt, zur Linken und Rechten des Herrn Geheimrat Sertorius. Sie warfen sich gerade einen geheimen, sehr vergnügten Blick zu. Alles klappte wunderbar, es konnte nichts mehr schief gehen.
Dann kam der Rektor – zum Glück war’s diesmal ein Mediziner – eine mächtige Gestalt, breit, groß und stark, in dem feierlichen Ornat, mit der Rektorkette über der Brust sah er gebieterisch und gewaltig aus. Als er an Riemenschneider vorbei zum Podium ging, grüßte er ihn herzlich, klopfte ihm väterlich auf die Schulter und schien ihm auch einen gelegentlichen Scherz zuzuwerfen, denn er lachte herzhaft über sein ganzes martialisches Gesicht.
Alle im Saal – fast alle – freuten sich und waren glänzender Stimmung. Aber dann kam ein Zwischenfall, der peinliche Wellen schlug und abergläubige Gemüter sehr erschreckte. Stolperte der Schulleiter auf der kleinen Treppe zum Rednerpult, oder hatten sich die Stufen der Treppe gelockert? Die mächtige Gestalt wankte, griff nach dem Pult, griff aber fehl ein vielstimmiger Schrei aus weiblichen
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