Entfesselte Energien (Band 1)
Kehlen gellte durch die festliche Halle. Alle sahen den guten ‘‘Vater’’ Wüllner schon rücklinks auf das harte Parket aufschlagen. Aber der ‘‘blonde Siegfried’’ war auf dem Posten; mit einem Riesensatz war er an der Treppe, breitete die Arme aus, stemmte seine nordische Reckengestalt gegen den Fallenden und fing ihn leicht und sicher in seinen Bärentatzen auf. Ein hundertstimmiger Beifall, diesmal aber aus männlichen Kehlen belohnte ihn für seine Tat. Wüllner dankte ihm, wie es schien, wieder mit einem Scherz auf den Lippen und stieg, von Franz geleitet, mit Behutsamkeit die Stufen empor. Oben stellte er sich breit und sicher hin und deutete durch eine drastische Geste an, dass dies wenigstens glücklich überstanden sei, worüber wieder eine freudige Bewegung durch die Versammlung ging.
Tess hatte während dieses Zwischenfalles, das sie sehr erschreckte, doch Gelegenheit gefunden, sich einige Male nach der feindlich gesinnten Gruppe umzusehen. Was sie da sah, war nicht geeignet, ihren Verdacht zu zerstreuen. Böse Ahnungen für den Tag stiegen in ihr auf.
Der Rektor hielt nur eine kurze Ansprache; er pries die Verdienste Riemenschneiders um die Wissenschaft wie um die ‘‘Alma Mater’’ Tübingen in herzhaften und scherzhaften Worten, gedachte lobend seiner Treue zur Heimat, die ihn auf lockende Angebote von Holland und Amerika ablehnend antworten ließ. „Ein echter Sohn der ‘‘Mutter Schwabens’’, der im Vierjahresplan der Regierung noch eine gewichtige Rolle spielen wird.“ Dann überreichte er ihm die Bestallung und gratulierte ihm zur Professur. „Ich danke ihnen, mein jüngster Kollege, dass sie bei uns blieben!“ Fest umschloss die mächtige Faust des Chirurgen die feine, schlanke Gelehrtenhand Riemenschneiders. Vierhundert Menschen hatten sich von den Sitzen erhoben und sich auf die Zehen gereckt, um dieses seltsame Bild zu sehen, das jeder sich schon vorgestellt hatte und das doch jeden überraschte, als es Wirklichkeit wurde. Es war ein gar zu ungleiches Paar. Gut, dass man nicht die Wahl zwischen ihnen zu treffen brauchte, man mochte sie beide, so wie sie da waren.
Tess hatte sich während des Trubels unbemerkt durch die Reihen der Schauenden hindurchgewunden und stand jetzt vorne am Podium, dem Freund gegenüber. Wie sie ihn so da stehen sah, im studentischen Wichs, der Uniform mit den bis über die Knie reichenden blitzenden Kanonenstiefeln, staunte sie, wie groß und imponierend er geworden war. Und was war’s für ein Jüngelchen gewesen, als er einst zu ihnen gekommen war! ‘‘So ’n Talglicht, so ’n semmelblonder Dürrknirps!’’, hatte ihr Vater einmal gesagt. Jetzt stand er da wie einer von der ‘‘nordischen Fechterschar’’. Sie lachte ihm herzlich zu. Dann traten sie respektvoll zurück. Riemenschneider bestieg das Podium, langsam bedächtig, sicheren Schrittes.
Ein Raunen ging durch die Menge, aber als der Gefeierte und viel Geliebte oben stand und einen prüfenden Blick über die Menge sandte, schwieg jeder Laut, kein Atem mehr war zu hören. Und so konnte er mit seiner weichen Cellostimme seine feinen Gedanken reihen und geschwaderweise vor der erstaunten Menge aufbauen. Kein gelehrtes Geschwafel, keine mit Fremdwörtern gespickte Fachsimpelei, in ganz neuer, in diesen Räumen unerhörter Klarheit sprach er über den Vierjahresplan der Regierung und, was die Wissenschaft, im Besonderen die Chemie, dazu zu leisten habe. Das konnte jeder Laie verstehen, auch wenn er noch keine chemische Vorlesung besucht hatte. Tess verfolgte die Ausführungen des Redners so gespannt, dass sie eine Weile gar nicht bemerkte, wie hinter ihr wieder eine Störung eintrat; man hörte ein Rumoren, ein Zischen dagegen, es wurde so laut, dass Riemenschneider seine Blicke dorthin richtete und seinen Vortrag für eine Weile aussetzte.
„ Da macht nur einer ein Fenster auf“, raunte Franz der Freundin zu.
Tess sah hin – natürlich in der Gegend des langen Zeus!
Als das Fenster endlich mit lautem Krachen geöffnet war, sprang d ieser, ein baumlanger Student, wieder von der Fensterbank herunter. Also konnte Riemenschneider in seinem Vortrag fortfahren. Aber kaum hatte er wieder begonnen, als eine Vorhangstange von oben mit großem Gepolter herunterfiel. Ein unterdrückter Aufschrei aus einer weiblichen Kehle folgte. Dann hastige Bewegungen, erregtes Geflüster. Rücken von Bänken und – das Hinaustragen einer ohnmächtig gewordenen Dame. Merkwürdig viel
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