Entfesselte Energien (Band 1)
entgegengetreten.
„Mama ist lieb zu dir?“, fragte Tess leise.
Luschida nickte.
„Sehr lieb?“
Sie nickte eifrig.
„Und Mama ist dunkel?“ Tess zeigte auf Augen und Haare. Sie nickte strahlend.
„ Wie kommt’s, dass du nicht mehr bei Mama bist?“
Die Gefragte wurde sichtlich verlegen und Tess bereute schon ihre voreilige Frage, aber dann schien es doch, als ob die Heimatlose froh sei, dass sie einmal jemandem ihr Herz ausschütten könne. Im weiteren Verlauf zeigte es sich, dass sie nur darum verlegen wurde, weil sie sich noch so schlecht ausdrücken konnte. Solche Menschen erregen leicht den Anschein von Dummheit, aber Luschida war nicht dumm, das konnte man selbst aus ihrer schrecklich geradebrechten Schilderung heraushören.
Tess erfuhr, dass sie mit Vater und ‘‘Mama’’ – zärtlich schien sie nur an Mama zu denken – zusammen bis ‘‘Prisko’’ gefahren war. Dort, am goldnen Tor, hatten sie sich etwas aufgehalten, ihr Vater hatte einen Geschäftsfreund getroffen, der ihn zu Verhandlungen oder Ausflügen – sie wusste es nicht – mehrfach mitgenommen hatte. Inzwischen hatten sie sich in einem ‘‘ganz vornehm glänzenden Haus’’ einquartiert. Schließlich sollte die Reise weitergehen nach Japan und China, sie stieg mit Mama auf den Dampfer, in die erste Klasse, ‘‘ganz stolze vornehme Kabine’’. – Das Vornehme schien bei allem die erste Rolle zu spielen. – Der Vater wollte nachkommen, kam aber nicht. Schließlich, kurz vor der Abfahrt des Dampfers kam der Geschäftsfreund, tuschelte eine Weile mit der Mama, worauf sie ihrer Tochter sagte, sie solle mal ein klein wenig hier allein sitzen bleiben, sie käme gleich wieder. Damit ihr die Zeit nicht lang würde, kaufte sie ihr von einem Händler ein Seidenäffchen. Das war so lustig, dass sie gar nicht merkte, wie der Dampfer abfuhr, ohne die Mutter. Als sie es endlich begriff, dass sie sich vater- und mutterlos auf dem ‘‘entsetzlich himmelgroßen Dampfer’’ befand, fing sie an, ganz mörderisch zu schreien, sodass man den Kapitän rief. Glücklicherweise hatte die Mama das Gepäck sowie die drei Karten da gelassen, sodass der Kapitän ihr für die beiden nicht gebrauchten Karten soviel Geld aushändigen konnte, dass es damit bis Hamburg reichte. Nach einigen Stunden kam auch ein Funkspruch an, der sie ein wenig beruhigte, ohne sie indessen vollständig aufzuklären. Seltsamerweise machte sie nur dem Vater Vorwürfe, dass auch die Mutter sich mindestens recht eigenartig benommen hatte, schien ihr gar nicht bewusst zu werden. Der ‘‘Mama’’ war sie so restlos verbunden, dass sie noch immer von einem zum anderen Tage hoffte, Mama würde kommen und sie aus ‘‘die schreckliche Land’’ abholen.
„ Dies Land ist gar nicht so schrecklich, Luschida. Sie werden es noch besser kennenlernen, wenn sie sich nicht mehr so einsam fühlen. Wir wollen gut zusammenhalten, ja?“
Schwärmerisch sahen die dunklen Augen auf, sie tauchten ganz unter in de m Blau. „Baroness sein so gut zu mich!“
„ Und nun nicht mehr ‘‘Baroness’’ sagen, Luschida!“
„ Nein?? Wie soll ich ihnen nennen?“
„ Sagen sie immer ‘‘Tess’’ zu mir!“
„ Dais! – Dais!“ Das Kind sang und spielte mit dem Namen.
„ Nein, Luschida: „Tess“!“
„ Ja, Tess – Tess! – Tess!“
„ Und nun gute Nacht, Luschida!“ Tess rutschte aus dem Bett und zog sich wieder an. Stürmisch richtete sich die Chilenin aus ihren Kissen auf, umschlang die neue Freundin und drückte sie aus Dankbarkeit für die wärmende Nähe ganz fest. Dann wandte sie den schmalen, blonden Kopf zur Seite und hauchte ganz innig ‘‘Buenas Noches’’ in die kleinen Ohren, wahrscheinlich genau so, wie es die zärtliche Mama bei ihr jeden Abend getan hatte.
Sehr bewegt ging Tess in ihr Schlafzimmer. Ihr erster Gedanke war: Franz: Sollte sie ihn warnen? – Ach nein! Warum? Er soll sie lieben! Wozu ist sie sonst auf der Welt!
Am nächsten Morgen suchte sie ihn auf. Eine sehr schäbige ‘‘Bude’’ hatte er, wirklich nur eine Bude. In einem Hinterhaus, beinahe unter dem Dach. Sie suchte an den Wänden, als müsste man am hellen Tage die Wanzen entdecken. Das muss bald anders werden, nahm sie sich vor. Das Wie war freilich noch eine schwierige Frage, sie hatte sich eben restlos ausgegeben und von zuhause war kaum jemals noch etwas zu erwarten. Sie mussten hier Geld verdienen.
„ Was sollen wir machen, Franz?“
„ Wieso?“ Er war
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