Entfesselte Energien (Band 1)
staatliche Anstellung und Vereidigung für die nächsten Tage in Aussicht stellte. Das hieß: Jetzt wird’s ernst! Auffallend still waren die beiden während der Fahrt. Mit der akademischen Freiheit war es dann zu Ende. Beneidenswerte Jugend, die das Werk, an dem sie mithelfen darf, die Größe dieses Werks, kurzerhand ihre eigene Größe nimmt!
Als der Major Franz Sellentin unterwegs absetzte, ließ sich Tess endlich seine Adresse geben. „Morgen früh um 10 bin ich bei dir!“, raunte sie ihm zu. Für diesen Abend hatte sie nur noch das Bedürfnis, allein zu sein mit ihren Gedanken, mit ihrem übervollen Herzen. Zuhause lief sie gleich hinauf in ihre Kammer und machte die Fenster weit auf. – Gott sei Dank, keine Straßenlaterne schien hinein. Zwischen den hohen Parkbäumen glitzerten einige Sterne, die eben anfingen, sich von ihrem sommerlichen Erblassen zu erholen. Darum liebte sie den Herbst so, weil er dem Himmel sein dunkles Samtkleid wieder zurückgab, auf dem seine Diamanten blitzen konnten. Warum gab es eigentlich einen Sommer? Doch nur darum, dass man den Herbst und den Winter hinter ihm lieb haben konnte.
Aber, das wollte ich ja gar nicht denken, viel Wichtigeres drän gt, kaum wird die Nacht reichen, um das alles zu Ende zu bringen. Eben wollte sich Tess einen Stuhl ans Fenster holen, um im Anblick der Nacht draußen die Pläne zu schmieden, als sie durch die Türe zum Nebenzimmer hindurch ein leises wimmern hörte, das in fast regelmäßigen Abständen von einem lauteren Schluchzen unterbrochen wurde. Eine weibliche Stimme! Vielleicht ein Dienstmädchen? Tess rannte ans Fenster und beugte sich, soweit es ging, nach der Seite hinüber. Das Zimmer nebenan war erleuchtet, aber das Fenster war geschlossen. Sie rannte zurück zur Türe und lauschte – da, wieder das Aufschluchzen!
„ Fehlt ihnen etwas?“, fragte sie durch die Türe.
Stille.
„Darf ich zu ihnen rein kommen?“
„ I – a!“ Das ‘‘J’’ wurde wie ein i ausgesprochen, oder vielmehr herausgeschluchzt.
Die Chilenin! „Ich komme, Señorita!“ Tess lief hinüber. Das Anklopfen vergaß sie, aber während sie in das Zimmer stürzte, fiel ihr auf, dass das fremde Mädchen ihre Türe nicht verschlossen hatte. Vielleicht, um das Gefühl zu haben, dass ihr nicht jede Kommunikation mit der Außenwelt verschlossen sei. Tess fand Luschida halb ausgekleidet auf dem Bettrande sitzend in sehr muffiger Luft: die Ellenbogen auf die Knie gestützt, das Kinn in den Händen vergraben. Sie stierte in erschütternd schöner Wehmut vor sich auf den Boden, wo Strümpfe und Bänder verstreut herumlagen.
Das Fenster auf und das Mädel ins Bad gesteckt, dachte Tess im ersten Augenblick! Das Letztere ging eben leider nicht mehr. „Aber ein Fenster kann ich wohl öffnen, Señorita?“
„ Ich – frieren – so!“, lispelte sie betörend das ‘‘S’’.
Tess sah sich in dem Raum um nach etwas Wärmendem. Kein Bademantel, kein Pelzmantel oder so etwas? Da nichts Derartiges zu finden war, fasste sie kurz entschlossen das große, schwere Mädchen unter Knie und Achsel, hob sie ins Bett, deckte das Federbett über sie. Die Chilenin ließ sich das ruhig gefallen, ein kindlich dankbarer Blick aus ihren großen Samtaugen belohnte sogar noch die Fürsorgliche, die viel kleiner und schmächtiger war als dies große Kind.
„ Wie stark Baroness sein!“, hauchte sie und streichelte die schnellen, energischen Hände, die ihr geholfen hatten.
„ Und nun ein Fenster auf, ja? Die Nacht ist so schön – fast wie in Chile!“
Luschida nickte. Aber als Tess vom Fenster zurückkam, musste sie doch richtigstellen: „Berlin nicht so schön sein wie Chile.“
„ Nein?“ Tess setzte sich auf das Bett, wo Luschida ihr freudig Platz machte, sie legte den rechten Arm um den Nacken der Fröstelnden. Gleich streichelte ihn das Prinzesschen und kuschelte sich ganz wohlig in diesen warmen Kragen. Tess zog sich auch aus, kroch unter ihre Decke, wärmte sie und lächelte ihr zu. „Ein bisschen Liebe muss das Kind haben und keiner gibt’s ihr! Nicht?“
Luschida nickte, ihre Augen ließen die Freundin nicht los; es war, als fänden sie eben etwas in dem Antlitz, das sich über sie beugte, etwas so Erstaunliches, dass man nicht gleich damit fertig werden konnte. „Baroness sein so gut – so gut sein kein andre blonde Mensch.“
Ah, das war so etwas wie eine Erklärung für ihr Erstaunen. Die blonden Menschen waren ihr wohl bisher immer sehr kühl
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