Entflammt
gekühlt hatte. Meine Augen waren weit aufgerissen, weil ich nichts anderes sehen wollte als Blätter und den Himmel, gelegentlich einen vorüber ziehenden Habicht, die dichten Wolken, die von Südwesten heranzogen. Ich atmete tief und schmerzhaft ein und fragte mich, wie ich es von jener Zeit bis hierher geschafft hatte, wie ich überlebt hatte, nicht nur körperlich, sondern vor allem emotional.
Ich hatte all meine Emotionen abgestellt. Nicht alle auf einmal, nicht über Nacht, aber langsam und im Laufe einiger Jahrzehnte. Mit fünfzig war ich bereits eine leere, harte Hülle gewesen.
Allmählich ließ das Schluchzen nach und wich zittrigem Atmen.
Irgendwann hörte ich Stimmen und zwei dunkle Figuren kamen auf mich zu.
»Sie ist hier«, rief eine von ihnen und beide eilten hastig herbei.
River kniete sich neben mich und strich mir das Haar aus dem Gesicht.
»Mein armes Kind«, sagte sie. »Mein Liebes. Es tut mir so leid. Bitte komm jetzt - komm ins Haus, damit du wieder warm wirst.«
Langsam rollten meine Augen seitwärts bis zu ihrem Gesicht. Konnte sie es wissen? Das konnte sie bestimmt nicht. Niemand wusste es. Ich war der einzige lebende Mensch, der es wusste.
»Nastasja., Du bist jetzt hier; du bist nicht dort. Verstehst du das?« River sah mich eindringlich an. Sie holte ein weichesweißes Taschentuch heraus und trocknete mir das Gesicht ab.
Solis kniete sich ebenfalls hin und legte mir meine Daunenjacke über. Die Wärme war wie ein Schock. Geduldig warteten die beiden im kalten Gras, River hielt meine Hand, die sich wie Eis anfühlte. Ich wollte für immer hier liegen bleiben, mich von Blättern bedecken und langsam von der Zeit begraben lassen. Aber dann, ich wusste nicht wieso, stellte ich mir vor, wie Reyn, der heutige Reyn, über mir stand und wie der kalte Wind seine Haare zerzauste, während er mit verschränkten Armen stirnrunzelnd auf mich herabsah.
Sehr langsam setzte ich mich auf und stellte mich dann auf meine zittrigen Beine. Mir tat jeder Atemzug weh. Das Adrenalinwar verpufft und jetzt fühlte ich mich nur noch erschöpft und leer. River und Solis halfen mir in meine Jacke, als wäre ich ein Kind. Ich kam mir vor, als wäre ich tausend Jahre alt.
»Mein Liebes«, sagte River und streichelte mein Haar. »Ich kann es mir nur vorstellen.«
»Kannst du nicht«, brachte ich krächzend hervor.
»Nastasja«, sagte Solis mitfühlend. »Ich fürchte, niemand erreicht unser Alter ohne irgendwelche Verletzungen. Jeder von uns hat eine grauenhafte Geschichte zu erzählen oder zwei oder fünf oder zwanzig. Jeder von uns war schon einmal ganz unten, hat etwas Unerträgliches ertragen und Dinge gesehen, die kein Mensch jemals sehen sollte. Und bei uns bleibt die Erinnerung daran für immer, für Jahrhunderte. Du bist nicht allein und du bist nicht der dunkelste Aefrelyffe auf dem Planeten.«
Seine Worte drangen in meine Ohren und sickerten in mein Gehirn.
»Und wie viel schlimmer muss es für die Menschen sein, die diese Grausamkeiten begangen haben«, fuhr River beinahegeistesabwesend fort, als hinge sie ihren eigenen Ge-danken nach. »So schlimm es ist, ein Opfer zu sein, und glaub mir, ich weiß, wie schlimm das sein kann, ist die unausweichliche Wahrheit doch, dass es für den Täter noch viel schlimmer ist. Damit leben zu müssen ... « Sie verstummte. Wir gingen zum Haus zurück. Hinter uns ging die Sonne unter. Drinnen roch es nach Essen, Bohnerwachs und den immergrünen Zweigen, die als Jul-Dekoration aufgestellt worden waren. Ich wollte mich in mein hartes Bett legen und nie wieder aufstehen,
River und Solis brachten mich zu meinem Zimmer und blieben stehen, als ich die Tür öffnete und hineinging.
»Iss etwas«, bat River mit ihrer angenehmen, melodischen Stimme. »Oder soll ich dir ein Tablett heraufbringen?«
Ich sah sie verständnislos an, als redete sie kompletten Unsinn. »Ich bringe dir ein Tablett«, entschied sie und die beiden ließen mich allein und schlossen leise meine Tür.
Niemand weiß es, sagte ich mir wieder. Ich hatte es nie jemandem erzählt und niemand würde es je erfahren. Ich war die einzige lebende Person, die gesehen hatte, wie meine Mutter und mein Bruder einen Mann getötet hatten, wie der Kopf meines Vaters über den Boden gerollt war. Ich war die einzige lebende Person, die wusste, dass ich die letzte Überlebende aus dem Hause meines Vaters war, dass seine Magie irgendwo tief in mir
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