Entflammt
alles, was ich bisher gesehen hatte: Wasser. Eine nasse Schüssel. Ich hockte auf dem Boden, meine Füße waren eiskalt und schliefen schon ein. Hunger hatte ich auch langsam. Mir wurde klar, dass mein Kopf nicht leer und meine Gedanken nicht still waren. Außerdem gab es so viele Dinge, die ich gar nicht sehen wollte. Solis würde mich umbringen. Plötzlich blinzelte ich. In der Schüssel waren schimmernde Bilder aufgetaucht, als würden sie sich darin spiegeln. »Da ist ein Bild im Wasser«, flüsterte ich, ohne die Lippen zu bewegen. Solis sagte nichts. Ich starrte weiter in die Schüssel und konzentrierte mich auf diesen neuen Zauber. Das Bild waberte und wurde scharf. Es zeigte mich, ich sah glücklich aus und hatte ein Baby im Arm, das ich nicht erkannte. Ich sah unnatürlich normal aus, wie ein ganz gewöhnlicher Mensch. Das Bild wurde unscharf und verblasste. Dann veränderte es sich. Ich fuhr zurück, mein Atem war flach. Diesmal war es eine brennende Burg. Dann hatte ich für den Bruchteil einer Sekunde das Bild eines toten Mädchens vor Augen, das auf dem kalten Steinboden lag, die blicklosen dunklen Augen weit geöffnet, das hellblonde Haar von Blut durchtränkt. Ich konnte den großen leeren Raum zwischen ihrem Kopf und ihrem Hals sehen und die Blutlache, die sich um sie herum ausbreitete.
Nein, nein, nein, kreischte mein Gehirn. Es ging noch weiter in der Zeit zurück und plötzlich war es wieder diese Nacht, die Nacht des Terrors, in der meine Mutter uns alle geweckt und ins Studierzimmer meines Vaters geführt hatte. Wir hörten, wie die Eindringlinge versuchten, die Tür mit einem Rammbock aufzubrechen. Wir konnten den Rauch vom Burghof riechen, wo sie die Ställe und die Häuser unseres Gesindes in Brand gesteckt hatten. Die Tiere schrien in Panik; die Männer brüllten.
Meine Mutter hielt ihr Amulett fest und sang. Dieses Lied hatte ich noch nie gehört. Ich liebte ihre Stimme. Sie sang imFrühjahr zur Tagundnachtgleiche, um die Fruchtbarkeit der Erde in den kommenden Monaten zu preisen. Zur Sonnenwende besang sie das Gleichgewicht des Jahres. Sie sang für unsere Dorfbewohner, wenn sie verletzt waren oder eine schwere Geburt hatten. Aber dieser Gesang war anders - es war ein schwarzer Faden darin enthalten, ähnlich einer pulsierenden Nabelschnur, und dieser Faden wurde immer dicker.
Die Schwärze war überall um uns herum. Wir fünf beobachteten sie mit großen Augen. Sigmundur und Tinna sahen ernst aus, aber nicht schockiert. Uns Jüngeren hing der Unterkiefer herunter.
Unter uns brach das Haupttor. Beißender Rauch quoll durch die Schießscharten und verbrannte unsere Nasen. Die Stimme meiner Mutter war jetzt geisterhaft und schrecklich, gewaltig und düster und voller Kraft. Das Licht im Zimmer schien matter zu werden. Das Atmen fiel schwer und ich konnte kaum noch etwas anderes sehen als das Gesicht meiner Mutter, plötzlich leichenblass, ganz unheimlich und kaum wiederzuerkennen.
Sie fingen an, die Tür zum Studierzimmer aufzubrechen.
Die Tür war fast fünf Zentimeter dick, das Schloss aus geschmiedetem Eisen. Der vorgelegte Balken auf der Innenseite bot uns weitere sechs Zentimeter Sicherheit.
Meine Mutter verstummte einen Moment lang und sah meinen älteren Bruder an. »Vergiss es nicht, Sigmundur«, sagte sie und ihre Stimme klang gar nicht mehr nach ihr. Ich hatte Angst, klammerte mich an Eydis und weinte. Haakon klammerte sich an mich und versuchte nicht zu weinen, weil er ein großer siebenjähriger Junge war. »Denk an das, was ich dir gesagt habe, ja?«
Mein Bruder nickte entschlossen und hielt sein Schwert mit beiden Händen umklammert. »Das werde ich, Moöir«, sagteer.
Der Raum bebte unter dem Anprall des Rammbocks. Zarte Glaskugeln fielen vom Kaminsims. Die einzige Fackel imZimmer flackerte; das Feuer im Kamin tanzte wild. Ich drängte mich noch näher an Eydis.
Zwei Dinge passierten gleichzeitig.
Ich sah alles aus der Perspektive einer Zehnjährigen. Ich spürte, wie das Leinen von Eydis' Nachthemd unter meinemhysterischen Griff zerriss. Ich war die Tochter von Ulfur, dem Wolf, und ich sollte stark und mutig sein. Aber das Schwertwar mir längst aus den tauben Händen gefallen und ich konnte nichts anderes tun, als meine Mutter anzusehen.
Das Feuer im Kamin flackerte auf und die Flammen schlugen so weit in den Raum, dass Funken auf dem Vorleger landeten. Etwas von der Größe eines Kohlkopfes fiel durch den Schornstein, prallte
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