Entfuehrt
trösten. Wollte sie lieben, bis keiner von ihnen beiden mehr einen klaren Gedanken fassen konnte.
Er rollte sich auf seine gesunde Seite und warf das Buch auf den Boden, in dem er vergebens versucht hatte zu lesen. Das Flackern der Lichter ließ ihn vermuten, dass der Strom jeden Moment ausfallen konnte.
Schlaf stand nicht zur Debatte. Während sie in der Nähe war, durfte er es nicht riskieren, einen seiner Albträume zu bekommen. Im Übrigen hatte er jetzt offiziell Dienst, und auch wenn die Stadt und die weitläufige Umgebung aufgrund des Schneesturms abgeschnitten waren und das Haus über eine Alarmanlage verfügte, würde er höchstens ein Nickerchen machen. Er konzentrierte sich lieber auf seine Durchhaltetechniken.
Er bewegte sich erneut, um eine bequeme Liegeposition zu finden. Er war einfach zu groß für die Couch. Trotzdem vermied er es immer, die Couch auszuziehen.
Ausgezogene Schlafsofas erinnerten ihn an unschöne Zeiten. Seine Mutter war schon tot und er acht Jahre alt, da hatte er mit seinem meist betrunkenen Stiefvater in einem schäbigen Einzimmerapartment in Brownsville gelebt. Dreckiger Linoleumboden, schäbige Resopalarbeitsplatten, von denen sich die Metallkanten lösten, die so scharf waren, dass man sich daran schnitt, wenn man unglücklich dagegengeschubst wurde. Er war damals oft unglücklich gefallen, und seit er denken konnte, hatte er seine Nächte auf einem ausziehbaren Schlafsofa verbracht. Die Nachbarn hatten ihn mit Essen und Mitgefühl versorgt, aber er wollte nur das Essen. Denn Mitgefühl machte ihn weich. Mitgefühl bescherte ihm immer mehr Schmerzen und brachte ihn fast um.
Steve – sein Stiefvater – war ein ehemaliger Schwergewichtsboxer, der gerade bei den Marines anfing. Er liebte es, die Kampftechniken an seinem Stiefsohn zu trainieren. Ab und zu, wenn der Whiskey ihn nicht vollends in Besitz genommen und in einen anderen Menschen verwandelt hatte, zeigte er Jake sogar einige von den Techniken.
In dieser Grauzone, verloren zwischen Licht und Dunkelheit, bellte Steve: Du wirst mal genauso gut zuschlagen können wie dein alter Herr, nicht wahr, mein Sohn?
Mein Sohn. Jesus!
Au ja, genau wie du, Dad, hatte er ihm beigepflichtet, weil er nicht dumm war und er eine friedliche Nacht, in der er nicht geschlagen wurde, zu schätzen wusste.
Zwei kurze Gerade, dann die Rechte.
Steves Ausfallschritte, die schwerfälliger waren, als sie sein sollten, knallten ohne Raffinesse auf den morschen Fußboden. Jake dachte damals, sein alter Herr sei wahrscheinlich überzeugt, er würde sich wie Muhammad Ali bewegen.
Und wenn das deinen Gegner nicht von den Füßen haut, ziel auf den Körper … auf die Rippen musst du schlagen. Hau ihm die Luft aus den Lungen, und dann machst du ihn mit einem Aufwärtshaken zum Kinn fertig …
Lange nachdem Steve in Vergessenheit geraten war, übte Jake noch regelmäßig die Schläge und die Nahkampftechniken, die Steve ihm beigebracht hatte. Aus dem Stand springen, die richtige Gewichtsverlagerung, mit der Handkante zuschlagen, Sohn. Denn eines Tages würde Jake alt genug sein, um diese Techniken anzuwenden.
Und der Tag kam. Die Wut und die Frustration, die sich in ihm aufbauten, hatten seine Leistungsfähigkeit ins Unermessliche gesteigert und eine Energie in ihm aufgebaut, die ein Junge allein nicht kontrollieren konnte.
Hier werdet ihr Durchhaltevermögen und Überlebensstrategien lernen. Captain Harry Lopez’ Stimme hallte in seinem Kopf wider. Das hatte der Mann an jenem lange zurückliegenden Tag während der SEAL-Eignungsprüfung gesagt. Jake war gerade sechzehn geworden und hatte soeben erfolgreich die Höllenwoche hinter sich gebracht. Falls ihr das Pech habt und gefangen genommen werdet, wird euch dieser Kurs helfen. Hier lernt ihr, alles zu kontrollieren, was ihr kontrollieren könnt. Ihr lernt, fit zu bleiben, sowohl körperlich als auch psychisch. Ihr lernt, keine Schläge zu provozieren, Unterstützung zu finden und einen Plan zur Flucht zu entwickeln. Am wichtigsten aber ist, dass ihr hier lernt zu verstehen, wie viel Einfluss euer Wunsch zu überleben auf alle eure Entscheidungen haben wird.
Jake hatte mehr als einmal bewiesen, dass er diesen Wunsch besaß. Aber wenn er jetzt auf diesem Sofa einschlief, wäre er einfach wieder der achtjährige Junge, der wartete, dass etwas passierte.
Nick lernte Jake im selben Jahr kennen, als Steve einen Job als Hausmeister in einer edlen Privatschule in Manhattan bekam. Auch Jake durfte
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