Entfuehrung nach Gretna Green
war Gregor unerträglich und behandelte jeden in seiner Umgebung wie seinen Lakaien. Was sie gestern getan hatte, bereute sie kein bisschen; Gregor hatte es verdient, einen großen Schneeball an den Kopf zu bekommen, auch wenn er dadurch so wütend geworden war, dass es anschließend noch zwei Stunden heftig geschneit hatte.
„Das Wetter ist furchtbar“, stellte Miss Platt fest. „Seit gestern ist mindestens ein Fuß Schnee gefallen.“
Woran einzig und allein der verdammte Gregor schuld war. Wahrscheinlich würde er ihr die Schuld geben, aber er war derjenige, der arrogant und selbstherrlich war.
Miss Platt holte ihre Näharbeit aus dem Korb, den sie mit ins Zimmer gebracht hatte. „Das Wetter ist so ungewöhnlich für April, und es ist so seltsam, dass wir nun alle zusammen hier festsitzen - ich frage mich, ob das Vorsehung war.“
„Glauben Sie an das Schicksal?“, erkundigte sich Venetia.
„Ich fange an, daran zu glauben“, erwiderte Miss Platt mit ernster Stimme, während sie geschickt eine Nadel einfädelte. „Ich frage mich, ob ich vom Schicksal zur gleichen Zeit hierhergeführt wurde wie Mr. West, weil...“ Sie errötete. „Du liebe Güte, ich hätte das Ihnen gegenüber nicht erwähnen dürfen.
Schließlich ist Mr. West Ihr Bruder, aber ich dachte gerade ... ach, vergessen Sie, was ich gesagt habe.“
Venetia blinzelte verwirrt.
Es konnte doch wohl nicht sein, dass Miss Platt in so kurzer Zeit echte Gefühle für Ravenscroft entwickelt hatte? Schließlich waren nur zwei Tage vergangen, und Ravenscroft war nicht die Sorte Mann, der eine Frau mit seinem Charme betören konnte. Natürlich war Miss Platt keine gewöhnliche Frau, aber dennoch war es erstaunlich, wie sehr sie sich gleich in die Sache mit Ravenscroft hineingesteigert zu haben schien.
„Ich weiß, was Sie denken“, sagte Miss Platt, während sie die Nadel in den Stoff stach. „Mr. West und ich kennen uns noch nicht sehr lange.“
„So ist es, und ...“
„Aber als ich Mr. West zum ersten Mal sah, wusste ich sofort, dass es Liebe ist.“
„Aber ... zunächst fühlten Sie sich zu Lord MacLean hingezogen“, erinnerte Venetia sie und zog fragend die Brauen hoch.
„Tatsächlich?“ Mit winzigen, ordentlichen Stichen nähte Miss Platt eine kurze Naht. „Ich kann mich nicht erinnern.“
„Ich bin von Natur aus eher optimistisch und hasse es, Schwarzmalerei zu betreiben, aber Ra... ich meine, Mr. West ist noch sehr jung und offenkundig ein etwas wankelmütiger Charakter. Er ist einfach noch nicht in der Lage, so tiefe Gefühle aufzubringen, wie sie für eine dauerhafte Beziehung nötig sind.“ Was die traurige Wahrheit war. „Wenn er in einigen Jahren reifer geworden ist, wird er möglicherweise in der Lage sein, jemanden wirklich zu lieben, aber so weit ist es noch nicht.“
Miss Platt lachte. „Oh, Miss Venetia! Sie reden wie eine Schwester, die Sie ja auch sind. Ich nehme an, es ist schwierig für Sie, Ihren Bruder als erwachsenen Mann zu sehen. Ebenso geht es mir mit dem armen Bertrand. Aber glauben Sie mir, Mr. West ist sehr wohl in der Lage zu tiefen Gefühlen.“ Sie ließ die Näharbeit in ihren Schoß fallen, presste beide Hände auf ihr Herz und seufzte tief. „Ich habe seine Seele in seinen Augen gesehen.“
Mit den Fingerspitzen rieb Venetia ihre Schläfen, wo sie einen beginnenden Schmerz spürte. So ging das nicht, sie muss-te so bald wie möglich mit Ravenscroft sprechen. Was würde er dazu sagen, dass Miss Platt anfing, sich in ihn zu verlieben? Wahrscheinlich war es am besten, momentan nicht darüber nachzudenken. Dennoch hörte sie irgendwo ganz tief in ihrem Inneren Gregors Stimme, die sie vor den Gefahren warnte, welche es mit sich brachte, wenn man sich in die Angelegenheiten anderer Leute einmischte. Energisch erstickte sie die Stimme. Lieber wollte sie in einen Sack gesteckt und im tiefsten Winter in die Themse geworfen werden, als jemals so hartherzig und gefühllos wie Gregor zu werden.
„Miss West.“ Miss Platts sanfte Stimme brachte Venetia in die Gegenwart zurück. „Eine so schöne Frau wie Sie muss schon viele Verehrer gehabt haben.“
„So schrecklich viele waren es nicht.“ Venetia konnte die Männer, die sie ermutigt hatte, sie zu umwerben, an den Fingern einer Hand abzählen. Den meisten Gentlemen, die sie kennenlernte, schien irgendetwas Entscheidendes zu fehlen, als könnten sie sich nicht an einem unsichtbaren Traumbild messen.
„Ich bin sicher, Sie hatten Hunderte, wenn
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