Entfuhrt
beruhigte.
»Sie kommt sicher bald nach Hause«, meinte sie, um ihm Mut zu machen. »Es gibt sicher eine ganz natürliche Erklärung. Ich vermute, dass sie bei einer Freundin ihren Rausch ausschläft.«
»Vermutlich.«
»Einen Unfall hatte sie jedenfalls nicht«, meinte die Krankenschwester. »Das wüssten wir hier.«
»Danke, vielen Dank.«
»Keine Ursache. Noch einen schönen Tag.«
Mike wählte die Nummer von Nour. Es war ihr offenbar nicht schwergefallen, nach Mikes erstem Anruf wieder einzuschlafen.
»Ich bin es noch einmal. Entschuldige die Störung.«
»Kein Problem«, erwiderte Nour schlaftrunken. »Ist sie zurück?«
»Ich habe das Krankenhaus angerufen. Dort ist sie nicht.«
»Schön.«
»Natürlich, aber langsam mache ich mir wirklich Sorgen. Du weißt nicht zufällig, ob sie mit jemand anderem ausgegangen sein könnte?«
Die Pause war eine Zehntelsekunde zu lang.
»Sie sagte, sie wolle nach Hause.«
»Nour, entschuldige, dass ich so direkt bin, aber du weißt sicher, dass wir vor einiger Zeit Probleme hatten.«
»Sie sagte, sie wolle nach Hause«, wiederholte Nour.
»Aber sie ist nicht nach Hause gekommen, also ist sie offenbar nicht nach Hause gefahren.«
»Nein.«
»Nein, was?«, sagte Mike.
»Nein, dann kann sie nicht nach Hause gefahren sein«, meinte Nour.
»Weißt du, wo sie ist?«, fragte Mike. »Du brauchst es mir nicht zu erzählen, aber falls du es weißt, dann ruf sie bitte an und sag ihr, sie soll sich bei mir melden. Ein kurzer Anruf genügt, damit ich Bescheid weiß.«
»Also, sie hat gesagt, dass sie nach Hause will.«
»Okay, okay.«
»Ich schwöre«, sagte Nour. »Ich weiß nichts. Wie spät ist es eigentlich?«
»Gleich zehn.«
»Das ist doch noch früh. Vielleicht hat sie unterwegs eine alte Freundin getroffen, und es ist spät geworden, und sie ist auf irgendeinem Sofa eingeschlafen. Es gibt sicher eine ganz harmlose Erklärung.«
»Ja«, sagte Mike.
»Es kann schließlich nichts passiert sein.«
»Nein.«
»Denn dann wäre sie im Krankenhaus gewesen«, meinte Nour.
»Ja.«
»In einer Stunde ist sie zu Hause, bestimmt.«
Mike sagte nichts. Nour fragte sich, ob er weinte.
»Du …«, sagte sie leise.
»Ich halt das nicht aus«, sagte er. »Ich schaffe das nicht.«
»Mike, hör zu. Denk nicht gleich das Schlimmste, es gibt sicher einen guten Grund. Es ist vermutlich einfach spät geworden, und sie wollte dich nicht anrufen und wecken, wahrscheinlich hat sie zu viel getrunken, und jetzt schläft sie ihren Rausch aus … Hat sie denn keine SMS geschickt?«
»Nein.«
Die Stimme war so leise, dass Nour sie kaum hörte.
»Ihr Handy ist ausgeschaltet«, fügte er mit einem unterdrückten Schluchzer hinzu.
»Vielleicht ist der Akku leer«, meinte Nour. »Es gibt sicher tausend Erklärungen. Ich kann etwas herumtelefonieren und mich umhören. Willst du das?«
»Das wäre wahnsinnig nett.«
»Gut. Dann mache ich das. Ganz egal, wie sich das Ganze aufklärt, sie wird von sich hören lassen. Das ist wirklich nicht in Ordnung. Das muss dir also nicht peinlich sein. Hörst du? Schließlich hat sie das versiebt und nicht du. Okay?«
14. KAPITEL
Hunger
Besonders widerspenstige Frauen werden ausgehungert. Zu wenig Essen verringert die Kraft, Widerstand zu leisten, drastisch. Schließlich hat die Frau keine Kraft mehr, sich zu wehren, egal, was ihr angetan wird.
Ylva saß auf dem Bett und starrte auf den Bildschirm. Holst fuhr in seinem alten, gepflegten Volvo Kombi vorbei. Er kaufte sich alle zwanzig Jahre ein neues Auto und fuhr es vom Montageband bis auf den Schrottplatz. Das deutete auf Sicherheit und altes Geld hin und ein gesundes Desinteresse an Statussymbolen.
Zwei Mädchen, die ein paar Jahre älter waren als Sanna, radelten in der Straßenmitte vorbei. Sie standen auf den Pedalen, ruhten aus, strampelten weiter.
Gunnarsson ging eiligen Schrittes und mit seinem weißen Hund an der Leine vorbei.
Das kleine Wohnviertel erwachte zum Leben. Alles war wie immer. Vor Ylvas Haus waren keine Aktivitäten zu bemerken.
Wie verhext starrte sie auf den Bildschirm, ihr einziges Fenster zur Außenwelt.
Die Kamera war im Obergeschoss installiert und schräg auf Mikes und ihr Haus gerichtet. Im Bild war auch die Allmende zu sehen, die große Wiese zwischen Gröntevägen und Sundsliden, auf der die Kinder viel zu selten Fußball und Völkerball spielten, sowie der Anfang des Bäckavägen.
Lange Zeit tat sich nichts. Die Zweige der Bäume schaukelten
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