Entfuhrt

Fische im Meer.
    Ein Geräusch vor dem Badezimmer veranlasste ihn, sofort das Wasser abzudrehen. Er stieg aus der Duschkabine und öffnete die Badezimmertür.
    »Hallo?«, rief er.
    Keine Antwort.
    »Ylva?«

    Nur das ferne Geräusch von Sannas Zeichentrickfilm.
    »Sanna!«
    »Was ist?«
    »Ist jemand gekommen?«
    »Was?«
    »Ist Mama gekommen?«
    Mike schrie laut.
    »Nein.«
    »Es klang so, als wäre jemand gekommen.«
    »Nein.«
    »Okay.«
    Mike trocknete sich ab und zog sich an, dann ging er runter zu Sanna ins Wohnzimmer. Er betrachtete sie, bis sie den Blick vom Fernseher abwandte und ihn fragend ansah.
    »Ich dachte, wir könnten einen Ausflug nach Väla machen«, meinte er munter.
    Er kannte nichts Schlimmeres als dieses Shoppingzentrum, insbesondere an einem Samstag, aber er hatte nicht die Ruhe, zu Hause auf und ab zu gehen und auf die Ankunft der Königin zu warten.
    »Jetzt?«
    »Ja, bevor es zu voll wird.«
    »Können wir nicht warten, bis Mama kommt?«
    »Nein, wir fahren jetzt.«
    Er nahm die Fernbedienung vom Tisch.
    »Zieh dir was an.«
    »Kannst du den Film anhalten? Ich will ihn fertig sehen, wenn wir nach Hause kommen.«
    Sanna sprang vom Sofa und rannte in ihr Zimmer.
Mike schaltete auf Bildschirmtext und überflog die Überschriften. Nichts von Interesse, stellte er fest und schaltete den Fernseher aus.
    Er ging in die Küche, nahm ein Papier aus Sannas Bastelecke und schrieb »RUF MICH AN« darauf. Dann legte er das Papier deutlich sichtbar mitten auf den Esstisch.

    Mike und Sanna verließen das Haus.
    Ylva saß im Bett und starrte auf den Bildschirm. Sie sah, wie ihr Mann und ihre Tochter ins Auto stiegen und wegfuhren.
    Ylva sah nicht jedes Detail, aber die Bewegungen waren vertraut. Es fiel ihrem Gehirn nicht schwer zu ergänzen, was das Auge nicht sah. Die üblichen Bewegungen, millionenmal ausgeführt, völlig undramatisch: Die Haustür ging auf, Sanna eilte zum Auto, stellte sich neben die Beifahrertür, offenbar hatte Mike ihr versprochen, dass sie vorne sitzen durfte. Mike schloss die Haustür ab, öffnete die Zentralverriegelung. Sie stiegen ein. Mike half seiner Tochter beim Anschnallen, schloss die Tür auf seiner Seite. Die roten Rücklichter gingen an. Der Wagen setzte zurück, blieb einen Augenblick stehen und fuhr dann vorwärts, links in den Bäckavägen und dann wieder links und den Sundsliden hinauf.
    Ylva wusste, dass es keinen Sinn hatte, aber sie schrie trotzdem laut und verzweifelt, als sie das Dach des Autos vor dem Haus vorbeigleiten sah.

    Sie hatten das Haus verlassen. Was bedeutete das? Wen hatte Mike angerufen? Was glaubte er?
    Sie konnte sich gut vorstellen, was er dachte. Vielleicht ertrug er es nicht, noch länger zu warten. Oder er fuhr Sanna vorsorglich zu seiner Mutter. Damit ihr der Auftritt erspart blieb, mit dem Mike vermutlich rechnete.
    Warum rief er nicht bei der Polizei an? Oder hatte er das bereits getan, und man hatte ihm geraten, abzuwarten?
    Sie werden sehen, sie kommt nach Hause.
    Anschließend hatte der diensthabende Polizist den Hörer aufgelegt, seinen Kollegen angeschaut, die Augen verdreht und sich eine weitere Tasse Kaffee eingegossen.
    Sanna war wie immer gut gelaunt zum Auto getänzelt. Sie ahnte nichts.
    Mikes Körperhaltung ließ sich nicht so leicht deuten. Die Angst vor Kontrollverlust war sein ausgeprägtester Charakterzug, obwohl er im Grunde genommen eine Heulsuse war. Mike war mehr in seiner Geschlechterrolle gefangen, als Ylva es je gewesen war.
    Er hatte doch wohl im Krankenhaus angerufen? Das hätte sie getan. Und sei es nur aus taktischen Gründen, um es hinterher als Vorwurf verwenden zu können.
    Ich habe sogar im Krankenhaus angerufen. Verstehst du!
    Der doppelte Märtyrer. Aufopfernd und betrogen.

    »Warum starrst du die ganze Zeit auf dein Handy?«
    Sanna sah ihren Vater vorwurfsvoll an.

    »Tue ich das?«
    Er lächelte sie verlegen an.
    »Ja, die ganze Zeit.«
    »Ich wollte nur nachsehen, ob Mama vielleicht angerufen hat.«
    »Wo ist sie?«
    »Ich weiß nicht so genau.«
    »Weißt du nicht, wo sie ist?«
    Sanna konnte das nicht verstehen, und Mike merkte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen.
    »Ich weiß, dass sie mit ihren Freundinnen unterwegs ist oder zumindest unterwegs war. Sie sind gestern zusammen ausgegangen. Vermutlich ist es spät geworden, und sie hat bei jemandem übernachtet.«
    »Hat sie nicht angerufen?«
    »Schau mal!«, sagte Mike und zeigte nach rechts.
    Sanna drehte sich um, und Mike wischte sich rasch