Entfuhrt
leicht im Wind. Dann fuhr ein Auto vorbei, oder ein Jogger eilte durchs Bild. Meistens aber Autos, deren Halter wahrscheinlich auf dem Weg zu einem Laden waren, um zu besorgen, was zum perfekten Wochenendfrühstück fehlte. Frische Brötchen, teurer Orangensaft, frischer Käse.
Ylva war schwindlig. Sie hatte seit dem Mittagessen am Vortag nichts mehr gegessen und kaum einen Tropfen getrunken.
Mit dem spitzen Stuhlbein in der Hand ging sie in die Kochnische und trank Wasser direkt aus dem Hahn. Sie musste Pausen einlegen, um zwischen den Schlucken zu atmen. Dann nahm sie das Knäckebrot aus dem Schrank, verteilte großzügig Schmelzkäse aus dem Kühlschrank darauf und aß im Stehen.
Die Energie des Essens verteilte sich sofort in ihrem Körper. Ihr Blick war auf einmal nicht mehr verschwommen, und sie ermahnte sich selbst, wie wichtig es war, klar zu denken. Nicht fühlen, denken.
Sie wusste nicht, was sie vorhatten oder planten. Wollten
sie sie hierbehalten? Sollte sie im Keller eingesperrt bleiben?
Dieser Gedanke nahm immer mehr Raum ein, ihr schwindelte vor Unbehagen. Sie musste mit ihnen sprechen, die Sache klären, sie zur Vernunft bringen. Hatten sie nicht mit der Vergewaltigung ihr Ziel erreicht? Auge um Auge, Zahn um Zahn. Aber warum war sie dann immer noch in diesem Keller?
Der Keller … Sie hatten ein Haus gekauft und den Keller schallisoliert. Sie hatten eine Küche und ein Bad installiert, ein Haus im Haus eingerichtet.
Das war kein plötzlicher Einfall, das war eine kostspielige und sorgfältig geplante Handlung.
Sie hatten vor, sie für längere Zeit gefangen zu halten.
Nour seufzte laut. Was hatte sie mit der Sache zu schaffen? Überhaupt nichts.
Das war alles Ylvas Schuld. Diese bestätigungsgeile Fremdschläferin sollte sich in Grund und Boden schämen.
Und diese Heulsuse von Mann, der nichts begriff. War ihm denn nicht klar, wie lächerlich er sich machte?
Warum hatte sie sich bloß angeboten herumzutelefonieren? Wen sollte sie anrufen? Und wozu sollte das gut sein?
Hallo, hier ist Nour. Ist Ylva bei dir?
Nein, wieso?
Mike hat mich angerufen. Sie ist offenbar gestern nicht nach Hause gekommen.
Hoppla.
Du weißt also nicht, wo sie ist?
Nein.
Alle würden es genüsslich rumerzählen.
Ylva ist offenbar gestern nicht nach Hause gekommen. So was aber auch. Wo die sich wohl rumgetrieben hat. Ha ha.
Nour befand sich in einer Zwickmühle. Eigentlich konnte sie nichts tun. Was sie auch tat, es machte die Sache nur noch schlimmer und stellte Mike als Loser hin.
Außerdem war Ylva vermutlich bald wieder zu Hause, beschämt und beteuernd:
Nie mehr wieder. Versprochen.
Nour setzte sich aufs Bett, lehnte sich zurück und starrte an die Decke.
»Ylva, Ylva, Ylva …«, sagte sie laut vor sich hin.
Die meisten hübschen Frauen verbaten sich übertriebene Aufmerksamkeit, zumindest von Männern, die weiter unten auf der sozialen, sexuellen oder finanziellen Leiter standen. Ylva konnte davon nicht genug bekommen. Jeder Mann wurde mit aufmerksamem Blick von ihr fixiert. Dass alle anderen Frauen das unmöglich fanden, kümmerte sie nicht.
Wie so oft bei Leuten, die gerne flirten, war das Interesse gespielt, nicht echt. In den meisten Fällen blieb es auch beim Flirten und Fummeln. Der Einzige, von dem Nour mit Sicherheit wusste, dass Ylva mit ihm eine Affäre gehabt hatte, war Bill Åkerman.
Nour kannte ihn nur flüchtig, wusste aber, dass er jede Krone durchgebracht hatte, die seine reiche Mutter in seine vielen hirnrissigen Projekte investiert hatte. Erst nach dem Tod seiner Mutter war es Bill wider Erwarten gelungen, mit einem exklusiven Restaurant Erfolge zu feiern.
Nour war sich so gut wie sicher, dass Ylva bei ihm zu finden war.
15. KAPITEL
Mike räumte den Frühstückstisch ab und duschte. Er schloss die Augen und ließ das warme Wasser über sein Gesicht laufen. Das Geräusch der Dusche sperrte die Außenwelt aus, und er sah ein, dass er so nicht weiterleben konnte.
Er dachte an Scheidung, stellte sich vor, wie er sie mit eiskalter Großzügigkeit durchziehen würde, um keinen Sorgerechtsstreit zu riskieren. Er würde sich eine Dreizimmerwohnung mit Balkon und Blick auf den Sund weiter nördlich zulegen. Sanna nur jede zweite Woche? Auch das hatte Vorteile.
Er stellte sich einen neuen und gesünderen Lebensstil vor. Er würde sich seine Bekannten aussuchen, nicht mehr einfach nur still danebensitzen und zu allem nicken und lächeln.
Internetdating? Es schwammen viele
Weitere Kostenlose Bücher