Entfuhrt
dem Pullover. Den BH auch. Hier wird nicht geschummelt.«
Er wackelte mit dem Kopf hin und her und verzog das Gesicht wie ein skeptischer Pferdehändler.
»Du bist mager«, meinte er schließlich. »Das sind alle Weiber hier draußen. Du musst ein paar Kilo zunehmen. Das ist anfangs vielleicht nicht so einfach bei dem ganzen Stress, aber du wirst dich schon noch daran gewöhnen.«
Er setzte sich aufs Bett.
»Ich glaube, ich weiß, was du denkst. Du versuchst, herauszufinden, wie du hier wegkommst. Du denkst über die Ungerechtigkeit nach, dass wir dich gegen deinen Willen hier festhalten. Du starrst auf den Fernseher und erwartest, dass irgendetwas passiert, etwas Dramatisches, das zu deiner Befreiung führt. Das ist natürlich.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Glaube mir, ich will deinen Träumen und Fantasien nicht im Wege stehen. Aber je früher du dich einlebst und deine Situation akzeptierst, desto leichter wird es.«
Er fasste sie am Kinn und hob ihren Kopf hoch. Sie sah ihm ins Gesicht, ohne sein Lächeln zu erwidern.
»Sie sind gestört«, sagte sie.
Der Mann zuckte mit den Achseln.
»Wenn es dir gelingt, hier rauszukommen, was ich stark bezweifle, dann geistere ich vermutlich eine Woche lang durch die Schlagzeilen. Aber weißt du, wenn man von einem Unglück, einem Verlust heimgesucht wird, dann verändert sich das ganze Leben. Dinge, die wichtig waren, werden unwichtig, und was man als Unsinn abgetan hat, vereinnahmt einen vollkommen.«
Er tätschelte ihren Unterarm und stand auf.
»Du wirst bescheiden werden. Du kannst es dir vielleicht jetzt noch nicht vorstellen, aber ich verspreche dir, eines Tages bist du so weit. Und die Reise dorthin unternehmen wir gemeinsam.«
Sie aßen die Pizza direkt aus dem Karton.
»Vergiss nicht den Salat«, sagte Mike versuchsweise.
»Ich mag keinen Pizzasalat«, wandte Sanna ein.
Mike drängte nicht weiter. Er hatte mit schmeichelnder Stimme »Milch?« gesagt, als er die Pizza auf den Tisch gestellt hatte, aber kapituliert, als Sanna mit Nachdruck »Es ist Samstag« erwidert hatte.
Mike hatte Sannas Pizza in Stücke geschnitten. Während sie aß, betrachtete sie das Cover der DVD »Ein Zwilling kommt selten allein«, ein Film über Zwillingsschwestern,
die ohne voneinander zu wissen heranwachsen, die eine bei der Mutter in England, die andere bei dem Vater in den USA. Nachdem sie sich in einem Sommerlager kennengelernt haben, beschließen sie, die Plätze zu tauschen. Als der Vater plant, eine Frau zu heiraten, die nur auf sein Geld aus ist, wissen die Zwillinge das gemeinsam zu verhindern.
Einer der besten Filme überhaupt, fand Sanna. Mike war ganz ihrer Meinung.
Von Sannas Pizza tropfte das Fett.
»Hier«, sagte Mike und reichte ihr ein Stück Küchenkrepp. »Es tropft.«
Sanna nahm das Papier und wischte sich unbeholfen die Hände ab. Mike wollte schon eingreifen, als er sich plötzlich an die verärgerte Bemerkung seines eigenen Vaters erinnerte: »Ja, merkst du denn nicht selbst, dass deine Finger ganz klebrig sind?!«
»Du kannst dir die Hände waschen, wenn du fertig bist«, sagte er mit sanfter Stimme.
»Okay.«
Wie immer hatte Mike seine Pizza aufgegessen, bevor Sanna noch die erste Ecke bewältigt hatte. Er drängte sie, noch ein weiteres Stück zu essen, das er auf einen Teller legte. Anschließend stellte er sein Glas und sein Besteck in die Spülmaschine und ging aus dem Haus, um die Pizzakartons direkt in die Mülltonne zu werfen.
Die Gemeinde Helsingborg hatte im Rahmen einer ehrgeizigen Umweltschutzaktion beschlossen, dass der Abfall in seine atomaren Bestandteile zerlegt werden sollte.
Das Ganze war die reinste Wissenschaft mit Dutzenden verschiedener Plastikbehälter. Die Männer von der Müllabfuhr nahmen sich deswegen plötzlich so wichtig, dass sie sich weigerten, Tonnen zu leeren, die nicht rechtzeitig zur Leerung an den Straßenrand gestellt wurden.
Mike zerriss die Kartons in handliche Stücke und blieb noch eine Weile vor dem Haus stehen, um die frische Luft einzuatmen, nicht ahnend, dass ihn seine weinende Frau knapp hundert Meter von ihm entfernt auf einem unscharfen Monitor beobachtete.
22. KAPITEL
»Ich gehe davon aus, dass du nicht über diese Sache schreiben wirst?«
Erik Bergman schaute Calle Collin amüsiert an. Die kluge, großherzige Frau hatte das Treffen eingefädelt.
»Anders Egerbladh und ich sind in dieselbe Klasse gegangen«, sagte Calle.
Erik Bergman nickte interessiert.
»Und wie war
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