Entfuhrt
anschaust, kann ich in Ruhe telefonieren.«
»Aber ich will, dass Mama nach Hause kommt.«
»Mama kommt nach Hause«, sagte Kristina. »Deswegen muss Papa jetzt telefonieren. Komm, Kleine, wir gehen jetzt den Film anschauen.«
Sie streckte die Hand aus, und Sanna begann zu weinen. Mike hob sie rasch hoch und drückte sie an sich.
»Ganz ruhig, mein Schatz, keine Gefahr. Mama ist bald zu Hause. Alles ist in Ordnung. Mama kommt bald.«
Sie saßen um den Küchentisch. Mike hatte Kaffee angeboten, und die Beamten hatten abgelehnt, wegen der späten Stunde. Die Polizistin hatte um ein Glas Wasser gebeten. Kristina hatte ihr eines hingestellt und sich anschließend als Zuhörerin an die Spüle gelehnt. Sanna saß schweigend auf dem Schoß ihres Vaters und verfolgte mit großem Ernst das Gespräch.
Die Beamtin lächelte sie an, ihr Kollege stellte die Fragen und schrieb die Antworten auf.
»Okay. Ich fasse jetzt noch einmal zusammen. Ihre Ehefrau hat gestern kurz nach achtzehn Uhr ihren Arbeitsplatz verlassen und ist seither verschwunden?«
Mike nickte. Der Polizist betrachtete seine Notizen und fuhr fort:
»Ihren Kollegen hat sie gesagt, sie mache sich auf den Heimweg. Zu Ihnen hatte sie jedoch gesagt, dass sie mit ihren Kollegen noch ein Glas Wein trinken würde?«
Der Polizist stützte seinen Stift auf seinem Block auf und schaute zu Mike hoch, ohne den Kopf zu heben.
»Nein, sie hat gesagt, dass sie vielleicht noch was trinken gehen würde. Morgens beim Frühstück.«
»Geht sie häufiger mit ihren Kollegen aus?«
»Sie hatten einen Abgabetermin. Manchmal verzögert sich da was. Wahrscheinlich dachte sie, dass sie es nicht rechtzeitig zum Abendessen nach Hause schaffen würde.«
»Sie haben sich also keine Sorgen gemacht, als sie nicht nach Hause kam?«
Mike schüttelte den Kopf.
»Ich bin davon ausgegangen, dass sie mit ihren Freundinnen unterwegs ist.«
»Haben Sie versucht, sie anzurufen?«
»Erst später, ich wollte nicht …«
Die Polizistin faltete die Hände auf dem Tisch und beugte sich interessiert vor.
»Was wollten Sie nicht?«
»Ich finde, dass man gelegentlich ruhig mal allein ausgehen kann, auch wenn man verheiratet ist. Wir vertrauen einander.«
»Sie glauben also nicht …?«
Mit Rücksicht auf Sanna sprach die Polizistin die Frage nicht aus.
»Nein«, erwiderte Mike.
Es wurde eine Sekunde lang still. Das reichte, damit auch bei Kristina der Groschen fiel.
»Sanna, Liebes, hör mal, Papa muss etwas mit den Leuten von der Polizei bereden, allein. Du kannst dir doch schon mal die Zähne putzen.«
»Aber ich will das auch wissen.«
Mike hob Sanna von seinem Schoß.
»Liebes, ich komme sofort.«
»Das ist meine Mama«, klagte Sanna.
Mike und die beiden Beamten lächelten freundlich, bis sie die Küche verlassen hatte. Sie hörten ihre weiteren Proteste und die klugen, beruhigenden Worte ihrer Großmutter.
Mike beugte sich vor und schaute abwechselnd auf den Mann und die Frau.
»Ylva meldet sich«, sagte Mike. »Sie meldet sich immer. Es ist schon vorgekommen, dass sie sich verspätet hat, das stimmt. Und gut, wir hatten unsere Probleme, genau wie alle anderen. Aber, und das ist wichtig, sie meldet sich immer.«
»Ihre Probleme«, meinte die Polizistin vorsichtig. »Denken Sie da an etwas Bestimmtes?«
Mike beherrschte sich. Er konnte es sich nicht erlauben, ausfällig zu werden.
»Nein«, erwiderte er.
Sobald die Beamten gefahren waren, kümmerte sich Mike um seine Tochter. Zum ersten Mal hatte Sanna sich deutlich von ihrer Großmutter distanziert und zu verstehen gegeben, dass sie unzureichend war.
Mike legte sich neben seine Tochter, strich ihr übers Haar und tröstete sie, so gut es ging. Er beteuerte, dass Mama sicher bald wieder zu Hause sein würde. Sie sei in keinen Unfall verwickelt, das wisse er, weil er mehrere Male mit dem Krankenhaus telefoniert habe. Mama sei nicht verletzt.
»Lasst ihr euch scheiden?«
»Warum sollten wir?«
»Veras Eltern lassen sich scheiden«, sagte Sanna. »Ihr Papa ist auch weg.«
»Ach so, nein. Wir bleiben zusammen. Das hoffe ich zumindest.«
Sanna begann, mit dem Finger das Muster der Tapete nachzuzeichnen. Eine Viertelstunde später war sie eingeschlafen. Mike ließ die Tür weit offen stehen und ging zu seiner Mutter in die Küche hinunter.
»Ich hoffe, du nimmst dir das nicht zu Herzen?«, sagte er.
»Nein, nein, nein«, versicherte sie. »Ich kann sie gut verstehen.«
»Wie spät ist es?«
Er schaute auf seine
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