Entfuhrt
schwach.
»Gut.«
Die Frau sah ihren Mann an, und dieser ließ ihre Arme los.
»Es ist ganz einfach«, fuhr sie geduldig, fast didaktisch, fort. »Du bist hier, und du weißt, warum.«
Ylva schlug den Blick nieder.
»Sieh mich an.«
Ylva schaute wieder hoch. Die Frau lächelte sie an und zog die Brauen hoch.
»Du weißt, warum du hier bist.«
»Ich …«
Die Frau legte ihren Finger vorsichtig auf Ylvas Lippen.
»Sch, davon wollen wir nichts mehr hören. Du wirst deine Schuld begleichen. Wir blicken jetzt nach vorne.«
Die Frau drehte sich um und streckte den Arm aus.
»Das hier ist deine Welt«, sagte sie. »Was sich in diesem Raum befindet, steht dir zur Verfügung. Du findest vielleicht, dass das alles nichts wert ist und dass du darauf gut und gerne verzichten könntest. Aber da irrst du dich. Du setzt zu viel als selbstverständlich voraus und siehst das Entgegenkommen nicht.«
Die Frau stieg aus dem Bett.
»Ich werde dir zeigen, was wir von dir erwarten. Wenn du hörst, dass wir kommen, stellst du dich dorthin, damit wir dich durch den Spion sehen können. Wir klopfen. Dann legst du die Hände auf den Kopf, sodass wir sie sehen können. Verstehst du?«
Ylva starrte sie an.
»Du übernimmst leichtere Aufgaben wie Wäschewaschen und Bügeln, aber in erster Linie stehst du zur Verfügung. Mein Mann nimmt dich, wenn ihm danach ist, damit du nie vergisst, warum du hier bist. Du wirst deine Dienste willig und überzeugend ausführen. Im Badezimmer
gibt es Körperpflegeprodukte, und wir erwarten, dass du diese benutzt. Hast du verstanden?«
Ylva schaute die Frau an. Der Mann stand schräg hinter ihr.
»Ihr seid doch nicht bei Trost«, erwiderte sie. »Ihr seid vollkommen übergeschnappt. Das ist zwanzig Jahre her. Glaubt ihr, dass Annika jetzt stolz auf euch wäre? Glaubt ihr, sie würde das hier als Wiedergutmachung empfinden?«
Die Frau schlug ihr fest ins Gesicht.
»Du nimmst Annikas Namen nicht in deinen schmutzigen Mund.«
Ylva versuchte, sich auf die Frau zu werfen und sie niederzuschlagen, aber der Mann ging dazwischen, riss ihr den Arm hinter dem Rücken hoch und zwang sie auf die Knie. Die Frau hockte sich ganz nah vor sie hin.
»Wenn du zu fliehen versuchst, kugelt dir mein Mann die Füße aus. Kurz gesagt, dein Leben ist von nun an wie in Tausendundeinenacht. Ohne die lästigen Märchen. Du lebst, solange es uns gefällt.«
Ein Herr Karlsson von der Polizei rief am Montagmorgen kurz nach acht an. Mike gab zu Protokoll, dass Ylva sich noch nicht gemeldet und er auch nicht anderweitig etwas über ihren Verbleib erfahren habe.
Mike sagte dies mit einer gewissen Verärgerung, da er am Sonntag bereits etwa zehn Mal mit der Polizei telefoniert
hatte. Außerdem hatte er von sich aus bei der Zeitung angerufen, die im Lokalteil eine Notiz veröffentlicht hatte, jedoch ohne Ylvas Namen zu nennen oder ein Foto zu zeigen.
»Man muss nicht immer mit dem Schlimmsten rechnen«, meinte Karlsson. »Jeden Tag gehen einige Hundert Vermisstenmeldungen in diesem Land ein. Jährlich sechs-, siebentausend. Von diesen bleibt nur ein gutes Dutzend auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Wobei es sich in der Regel um Ertrunkene und Ähnliches handelt. Kollege Gerda und ich würden gerne bei Ihnen vorbeischauen. Sind Sie in der nächsten Stunde zu Hause?« Gerda erwies sich als Mann. Er hieß mit Nachnamen Gerdin, aber da die Frauenquote in seiner Abteilung niedrig sei, hätten ihn seine Kollegen umgetauft, um das Geschlechterverhältnis auszugleichen, erklärte Karlsson.
Mikes erster Eindruck war, dass Gerda der Nettere der beiden war, aus dem simplen Grund, weil Karlsson die Fragen stellte. Beide wirkten inkompetent oder vielleicht eher resigniert. Als hätten sie im Voraus abgemacht, dass ihre Aufgabe darin bestand, hysterische Angehörige zu beruhigen und im Übrigen abzuwarten.
»Sie haben also eine gemeinsame Tochter?«, fragte Karlsson.
»Ja. Sanna. Meine Mutter hat sie gerade eben zur Schule gebracht.«
»Hier oben? Das gelbe Backsteingebäude?«
Karlsson deutete mit dem Daumen hinter sich.
»Ja. Laröd Skola. Ich hielt es für das Beste, dass alles
seinen normalen Gang geht. Ich wüsste nicht, was ich sonst tun könnte.«
Er sah die Polizisten an und wartete auf ihre Zustimmung. Gerda nickte und wechselte sein Standbein.
»Wie alt ist Ihre Tochter?«, fragte er.
»Sie ist sieben und wird in ein paar Wochen acht. Sie geht in die zweite Klasse.«
»Erzählen Sie noch einmal mit eigenen Worten,
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