Entfuhrt
Missgeschick.
Einer der Reporter hatte die fragliche Zeitschrift geholt und den Artikel aufgeschlagen. Er war bereits ein halbes Jahr zuvor verfasst worden, dann aber liegen geblieben. Calle beugte sich über den Tisch, um sich das Foto des Mannes anzusehen, der vier Monate zuvor bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Er hatte sich stolz mit seiner Familie ablichten lassen, seiner afrikanischen Frau und den beiden gemeinsamen Kindern. Ein
neugeborenes Mädchen, den Kleidern nach zu urteilen, und ein etwa zweijähriger Sohn.
Es dauerte eine Sekunde, bis Calle ihn erkannte. Sein Puls beschleunigte sich, und er suchte den Namen des Mannes im Text. Tatsächlich. Er war es.
Der Mann, der in Afrika bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, war Johan Lind, einer der Pausenhoftyrannen, der zu der von Jörgen Petersson als Viererbande bezeichneten Gruppe gehört hatte.
Mike ging auf die Party, obwohl er Maskeraden für einen Verstoß gegen die Menschenwürde hielt, etwas, das sich nur fantasielose und sadistische Menschen einfallen ließen.
Er ging Sannas wegen. Weil er kein Spielverderber sein wollte.
Und weil man ihm Virginia als Tischdame versprochen hatte.
Virginia war eine förmliche Frau mit schmalen Lippen und missbilligender, kühl-distanzierter Miene. Aber nach einem halben Glas verwandelte sich diese Virginia in ein hemmungsloses Partygirl.
Mike schätzte Virginia bei solchen Veranstaltungen fast ebenso sehr, wie er Maskenbälle verabscheute.
Die anderen Gäste klopften ihm auf die Schulter und kommentierten erfreut, dass er sich wieder unter Menschen wage.
Seit Ylvas Verschwinden waren gut zehn Monate vergangen und seit dem Zeitungsartikel fast ein halbes Jahr. Mike atmete stoßweise, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.
Das Abendessen lief glatt, Virginia war noch unverändert, Dr. Jekyll und Mrs. Hyde.
Anschließend, als die Tische beiseitegeräumt waren und die Musik an jugendlichen Unverstand und gespielt anzügliche Bewegungen erinnerte, zog Virginia ihn an sich und brüllte ihm ins Ohr.
»Ich glaube, du weißt es.«
Sie nickte angeschickert vor sich hin und klopfte Mike mit dem Zeigefinger auf die Brust. Er hatte eine böse Ahnung, aber die war so abwegig, dass er sie nicht zuließ.
»Was weiß ich?«
»Bitte?«
Sie war richtig betrunken.
»Was soll ich wissen?«, fragte Mike mit lauter Stimme.
Virginia stolperte einen Schritt auf ihn zu und bedeutete Mike, sich zu ihr runterzubeugen, damit sie ihm ins Ohr brüllen konnte.
»Ylva«, sagte sie. »Ich glaube, du weißt, was geschehen ist.«
Mike blieb der Mund offen stehen, sein Puls raste. Sie zuckte mit den Achseln und deutete in die Runde.
»Alle glauben das.«
36. KAPITEL
Mike hatte die halbe Nacht mit seiner Mutter zusammengesessen. Als er lange genug auf das Licht gestarrt hatte, das durch die Gardine des Schlafzimmers sickerte, zog er Jeans und Pullover an und begab sich zu Virginia und ihrem Mann im Tennisvägen. Es war neun Uhr, sie waren gerade aufgestanden.
Lennart öffnete die Tür. Mike ging an ihm vorbei in die Küche, in der Virginia verlegen versuchte, sich hinter der Zeitung zu verstecken, und behauptete, sich an nichts mehr erinnern zu können.
»Ich muss mir so etwas von dir nicht bieten lassen«, sagte Mike und deutete mit einem vorwurfsvollen Finger in ihre Richtung. »So einen Scheiß muss ich mir wirklich nicht bieten lassen. Ylva ist verschwunden, wahrscheinlich ist sie tot, und dir macht es Spaß, mich mit Dreck zu bewerfen und Stammtischmutmaßungen anzustellen.«
Lennart trat einen Schritt vor und versuchte, männliche Autorität auszustrahlen.
»Mike, setz dich, damit wir in aller Ruhe darüber reden können.«
»Fass mich nicht an.«
Mike atmete laut.
»Ich hatte mich so auf diese Party gefreut«, sagte er. »Und dann haust du mir so was um die Ohren.«
Virginia saß schweigend und mit hochrotem Gesicht da.
»Was zum Teufel glaubst du eigentlich? Glaubst du, glaubt ihr allen Ernstes, dass ich etwas mit Ylvas Verschwinden zu tun habe? Glaubt ihr das?«
»Natürlich glauben wir das nicht«, sagte Lennart. »Das war ein Missverständnis, oder, Virginia?«
Sie saß starr da und rührte keine Miene.
»Dann lasst es mich hier noch einmal betonen, dass ich nicht das Geringste mit Ylvas Verschwinden zu tun habe. Sie ist jetzt seit zehn Monaten und sieben Tagen verschwunden. Es vergeht keine Stunde, in der ich mich nicht frage, was in der Nacht, in der sie verschwand, geschehen
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