Entfuhrt
mir mehr oder weniger egal. Es war im Übrigen auch kein ausgesprochener Vorwurf, mehr eine Unterstellung in Form vielsagender Blicke und abwartenden Schweigens. Als würde sich mein Gewissen früher oder später schon melden und ich zusammenbrechen und erzählen, was sich wirklich zugetragen hat.«
»Und warum ist es jetzt anders?«
»Weil ich gerade in so etwas wie einen Alltag zurückgekehrt war. Die Party, die ich besucht habe, war so etwas wie ein Wendepunkt. Es war ein Maskenball. Ich verabscheue Maskenbälle. Trotzdem bin ich hingegangen, um zu zeigen, dass ich wieder auf die Beine gekommen bin.«
Mike schaute hoch und begegnete dem forschenden Blick des Arztes.
»Sie finden, dass es keine Rolle spielen sollte?«, sagte er. »Was die Nachbarn meinen und denken. Dass das im Hinblick auf alles andere vollkommen egal sein sollte?«
Gösta Lundin schüttelte unbeeindruckt den Kopf.
»Das habe ich nicht gesagt. Und so habe ich es auch nicht gemeint.«
Mike bereute seine Worte.
»Entschuldigen Sie.«
»Kein Problem. Ich möchte nur, dass Sie das, was Sie empfinden, beschreiben. Wie sieht es mit der Trauer aus?«
»Ein schwarzes Loch. Ich bin wie eine leere, hohle Hülse. Das ist natürlich. Aber manchmal frage ich mich, ob ich das wirklich empfinde – oder nur, weil es von mir so erwartet wird. Manchmal ist es wie Schweiß auf der Stirn oder ein Druck von innen, wie ein dumpfes Hämmern in meinem Kopf. Kein metallisches, eher gedämpft. Es ist sozusagen körperlich. Aber doch irgendwie distanziert.«
»Distanziert? Wie meinen Sie das?«
»Die Stimmen um mich herum. Losgelöst von mir. Ich höre alles, aber ich bewege mich wie in einem Nebel, fast wie im Rausch. Aber irgendwie auch wieder nicht. Es ist ein bisschen so, als wäre ich eine andere Person, als stünde ich neben mir. Wenn ich den Arm ausstrecke und jemandem die Hand gebe, ist es, als hätte ich nichts mit dieser Hand zu tun. Dasselbe gilt für das, was ich sage. Das sind nicht meine eigenen Worte. Die Worte kommen über meine Lippen wie schlecht synchronisierte Werbespots. Die Lippenbewegungen stimmen nicht mit den Lauten überein. Aber das Schlimmste ist, dass sich nichts verändert hat. Alles ist genauso wie vorher, es geht einfach weiter.«
»Ihre Tochter«, sagte der Arzt zögernd.
»Sanna …«, begann Mike. »Ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, dass sie darüber weg ist, sie hat die Trauer überwunden,
die Situation akzeptiert. Tja, so ist es nun einmal. Mama war da, jetzt ist sie weg. Es gibt sie nicht mehr. Das ist fast unheimlich.«
»Geht es ihr gut?«
»Sie meinen, ganz allgemein? Ich glaube schon. Ich bin mir sogar ziemlich sicher. Jeder Tag ist ein neues Abenteuer.«
»Hat sie Freunde?«
»O ja.«
»Worüber Sie sprachen, der Verdacht gegen Sie, hat sich also nicht auf Ihre Tochter übertragen?«
»Nein. Wenn das der Fall wäre, würde es mich verrückt machen.«
Gösta Lundin setzte sich anders hin.
»Das, worüber wir eben hier gesprochen haben, wurde also von den Worten einer betrunkenen und nicht sonderlich intelligenten Frau auf einer Party ausgelöst?«
Mike lachte kurz auf. Gösta sah ihn forschend an. Mike schüttelte den Kopf.
»Wussten Sie, dass man erst nach fünf Jahren jemanden für tot erklären lassen kann?«, sagte er. »Erst muss es von der Meldebehörde bekannt gegeben werden, und dann muss man noch ein weiteres halbes Jahr warten. Und dann? Lädt man zur Beerdigung mit einem leeren Sarg und spricht über einen Menschen, an den sich niemand mehr erinnert?«
»Sie haben die Frau mit Ihrer Wut konfrontiert«, sagte Gösta. »Erzählen Sie davon.«
»Ich bin zu ihr nach Hause gegangen. Erst behauptete
sie, sie könne sich an nichts erinnern, dann sagte ihr Mann, ich hätte sie missverstanden. Sie schämte sich natürlich.«
»Aber Sie sind davon überzeugt, dass sie ausgesprochen hat, was alle denken?«
Mike nickte.
»Und wenn Sie diesen Gedanken einmal zu Ende denken. Stellen Sie sich vor, Ihre Freunde und Bekannten sprechen über nichts anderes. Und zwar ständig. Sie sitzen beieinander und stimmen jeder Anklage, die vorgebracht oder angedeutet wird, mit einem Nicken zu.«
Mike sah den Arzt an, der ihn anlächelte.
»Sie hören doch selbst, wie abwegig das klingt, oder?«
»Ja, vielleicht.«
»Ich denke, es ist gut, dass Sie gekommen sind. Ich schlage vor, wir vereinbaren gleich jetzt einen neuen Termin und treffen uns, bis es Ihnen besser geht. Ist das in Ihrem Sinne?«
Mike nickte
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