Enthuellung
sehen, die um ihr bloßes Leben kämpfen, hat mir einen neuen Blick auf meine eigene Unsicherheit verschafft. Es lässt mich auch daran denken, wie wichtig es ist, im Jetzt zu leben, wie leicht einem das Leben entrissen werden kann, wie es bei meiner Mutter war und bei der von Chris. Ganz gleich, wie Furcht einflößend die Entscheidung ist, ich muss am Montag meinen Lehrerjob kündigen.
Ich verlasse das Bad und gehe zurück in Dylans Zimmer und will Chris diese Entscheidung mitteilen, stelle aber fest, dass ich immer noch allein bin. Das Geräusch von Stimmen lenkt meinen Blick auf die halb geöffnete Tür, wo ich Brandy im Gespräch mit einem Mann in OP -Hosen und weißem Kittel sehe, und sie wirkt nicht glücklich. Der Mann, von dem ich annehme, dass es der Arzt ist, drückt ihre Schulter und geht davon. Brandy schlägt die Hände vors Gesicht.
Wie der Blitz bin ich durch den Raum und zur Tür hinaus. »Brandy?« Sie lässt die Hände sinken, und ich sehe die Tränen, die ihr über die Wangen strömen. »Oh, meine Liebe, was ist los?« Ich nehme sie in den Arm, und sie klammert sich an mich.
»Sein Krebs schreitet schneller voran als erwartet.«
Ich habe das Gefühl, als wäre mir gerade das Herz herausgeschnitten worden, und Dylan ist nicht einmal mein Kind. Wie muss sie sich fühlen, und wie kann ich sie trösten?
Nach einer kleinen Weile tritt sie zurück. »Ich muss meinen Sohn sehen. Und ich muss Sam anrufen. Er ist bei der Arbeit.«
»Ich werde ihn anrufen«, biete ich an. »Sie gehen sich frischmachen, dann gehen Sie zu Dylan.«
Sie gibt mir Sams Nummer, umarmt mich abermals und zittert dabei am ganzen Körper. Ich schaue auf, und mein Herz krampft sich zusammen, als Chris mit Dylan an seiner Seite aus dem Aufzug tritt. Ich winke ihn weg, und er weicht schnell in den Lift zurück und zieht Dylan mit sich. Erleichtert atme ich auf, weil ich die brenzlige Begegnung zwischen Mutter und Sohn verhindern konnte. Irgendwie muss ich Brandy helfen, die Fassung wiederzugewinnen und für ihren Sohn stark zu sein, auch wenn ich weiß, dass sie innerlich mit ihm stirbt. Und irgendwie muss ich Chris da durchbringen. Tief im Innern bin ich mir sicher, dass es in meinem ohnehin beschädigten Mann tiefe Wunden aufreißen wird, und es tut mir weh, nur daran zu denken.
Als ich Brandy endlich einigermaßen beruhigt habe, simse ich Chris, dass er und Dylan zu uns kommen können. Einige Minuten später schlendert Dylan in den Raum; er grinst und singt den Song aus
Nightmare – Mörderische Träume: »One, two, Freddy’s coming for you. Three, four, you better lock your door. Five, six, grab your crucifix.«
Chris folgt ihm, mit einem dunkelblonden Eintagebart, das Haar zerzaust und sexy und die Augen so gequält wie die von Brandy. Er hat die Neuigkeiten über das Fortschreiten des Krebses noch nicht gehört, aber er ist klug genug anzunehmen, dass es schlechte Nachrichten gibt.
Dylan fährt fort zu singen, während er sich aufs Bett fallen lässt:
»Seven, eight, you better stay up late.«
»Jetzt reicht’s!«, rufe ich, muss aber über seinen Versuch, mich zu necken, lächeln.
»Ja, jetzt reicht’s«, stimmt Brandy lachend zu. »Dieser Song ist mir auch unheimlich.«
»Ihr zwei könnt doch nicht Angst bekommen, nur weil ihr den Song hört«, ruft Dylan.
Mir schaudert bei dem bloßen Gedanken an diesen Film. »Es gibt jede Menge Gründe, warum ich zugestimmt habe, mir
Friday the 13th
anzusehen, statt
Nightmare – Mörderische Träume,
und dieser Song steht ganz oben auf der Liste.«
»Wir werden sie zwingen, sich den Film beim nächsten Mal anzusehen«, verspricht Chris und setzt sich neben ihn.
Dylan macht eine Faust. »Ja!«, sagt er und lacht.
Es trifft mich, als ich beobachte, wie sich die beiden für heute verabschieden. Dylan und Chris ersetzen einen Horror durch einen anderen. Dylan benutzt Filme und Monster, um gegen Krebs zu kämpfen, und Chris benutzt Schmerz, um gegen Schmerz zu kämpfen. Kein Wunder, dass die beiden so viel verbindet.
»Nun?«, fragt Chris, als wir in den Aufzug treten.
Er muss nachhaken, denn ich weiß, dass es ihm wehtun wird. »Sein Krebs schreitet schneller voran als erwartet.«
Er legt den Kopf in den Nacken, hebt das Gesicht der Decke entgegen, und seine Qual zerrt an mir. Ich schlinge ihm die Arme um die Taille und drücke die Wange an sein rasendes Herz. »Es tut mir leid.«
Er drückt sein Gesicht in mein Haar und atmet ein, als würde es ihn erleichtern. »Ich
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