Enthuellungen eines Familienvaters
lernt sie’s.“
Nach etwa zehn Minuten bat sie mich, noch einen Blick in die Küche zu werfen, aber ohne mich dabei sehen zu lassen. Und ich ging und machte einen kleinen Spaziergang bis zum Gangende.
„Na?“
„Es ist wirklich ein Jammer. Sie leidet sehr.“
„Hat sie Fieber?“
„Gewiß“, antwortete ich. „Ein Höllenfieber.“
Carlotta leckte eine nicht unbeträchtliche Weile Zucker, dann erhob sie wieder den Kopf.
„Glaubst du, wird sie sterben?“
„Ich fürchte ja. Sie ist sehr abgemagert. Meiner Meinung nach müßtest du zurückkehren.“
Nun war der Zucker zu Ende. Carlotta warf die Tüte weg; sie schwankte, und man begriff sehr gut, daß sie die Beute eines schrecklichen inneren Kampfes war. Dann erhob sie sich, nahm ihre Reisetasche und entfernte sich langsam. An der Tür wendete sie sich um. „Na schön“, sagte sie ernst. „Aber ich tue es um deinetwillen.“ Freunde, was bedeutet schon der Verlust einer neuen Füllfeder und eines halben Kilos Zucker angesichts einer so noblen Geste? Sie ging festen Schrittes dem stündlichen Martyrium entgegen, und ich folgte ihr mit dem Blick; ehe sie hinten im Gang um die Ecke bog, wendete sie sich noch einmal um und grüßte mich mit einem Winken der Hand und ähnelte ein wenig dem heldenhaften Knaben in dem berühmten Jugendbuch, der von den Apenninen bis zu den Anden ging, um seine Mutter zu retten.
Margherita hob den Blick von der Zeitung und sah mich mit besorgter Miene an.
„Dieser Präsident Einaudi“, sagte sie, „wird doch wohl nicht einer von jenen sein, die plötzlich die Leute in Waggons verfrachten und nach Sibirien deportieren?“
Ich antwortete, daß diese Vermutung mit Gewißheit auszuschließen sei, und Margherita nahm die Lektüre der Zeitung wieder auf.
Aber gleich darauf hob sie wieder den Kopf. „Giovannino“, erkundigte sie sich ernst, „glaubst du, daß die Sache mit dem Anlasser eine alarmierende Entwicklung nehmen könnte?“
„Mit dem Anlasser?“
„Ja; schon seit einigen Tagen gehen die Leute wegen der Sache mit dem Anlasser besorgt herum. Auch Herr Luigi hat heute früh mit dem Verwalter darüber gesprochen.“
Ich erklärte ihr, daß die Geschichte mit dem Anlasser sie nicht im mindesten beunruhigen dürfe, da der Anlasser keine Angelegenheit politischen Charakters sei, sondern einfach ein Mechanismus, der dazu dient, die Elektrizität in die Explosionsmotoren zu leiten.
„Ich verstehe“, entgegnete Margherita, „die berühmte Verstaatlichung der Elektroindustrie taucht wieder auf.“
Ich beschränkte mich darauf, „Blödsinn!“ zu sagen.
Margherita stand auf, um mir den Kaffee zu machen, aber sie versuchte vergebens, den Gasherd anzuzünden. Und nach dem vierten Zündholz schaute sie mich streng an.
„Du sagst ,Blödsinn “!“ rief sie, „aber schau her! Wir lachen über die Agitation und die Sabotageakte, aber sie kennen sich nicht aus vor lauter Verstaatlichung, diese Herren von den E-Werken. Es ist unnütz, mir die Wahrheit zu verbergen, Giovannino; ich kenne mich aus in der Politik. Ich wußte ja, daß die Geschichte mit dem Anlasser etwas Ernstes ist! Aber es wäre gut, diesen Leuten zu erklären, daß es so nicht geht. Man müßte energisch einschreiten!“ Margherita war sehr erregt; ich versuchte, sie zu beruhigen, indem ich ihr mit Sanftmut zuredete. „Ich verstehe dich, Margherita“, sagte ich. „Aber bevor du es zu einem Zusammenstoß mit den Arbeitermassen kommen läßt, solltest du versuchen, den oberen Hahn aufzumachen.“
Margherita drehte den Hahn beim Zähler auf. Das Gas brannte. „Das Geheimnis ist immer dasselbe“, bemerkte Margherita befriedigt. „Erhebt die Stimmen und laßt euch hören, wenn ihr nicht wollt, daß diese Leute euch mit den Füßen auf den Kopf steigen.“ In diesem Augenblick erschien Carlotta, verkündete: „Fünfunddreißig Uhr!“ und verschwand wieder.
Margherita schaute auf den Kalender, der neben dem Gasherd hing. „Die Stunden“, seufzte sie, „sind die Asche der Zeit. Und jedes Teilchen dieser Asche ist ein Stückchen von uns, das davongeht. Jedes menschliche Wesen wird vollständig geboren, mit seiner ganzen Zeit, nicht eine Minute weniger, denn die Natur ist gerecht, und alle Menschen sind für sie gleich, und die Natur gibt jedem von ihnen, was ihm zukommt, seine hundert Jahre Leben.“
Margherita öffnete die Zigarettendose.
„Schau, Giovannino“, erläuterte sie, „nicht zwei Zigaretten, sondern zwei Milliarden Zigaretten
Weitere Kostenlose Bücher