Entrissen
mich dazusetzen?«
Sie blickte auf. Vor ihr stand Ben Fenwick. An der Stimme hatte sie ihn gar nicht wiedererkannt, so fremd war ihr der zerknirschte Tonfall. Allerdings passte er durchaus zu seinem restlichen Erscheinungsbild: Der arme Mann schien sich vor ihren Augen aufzulösen. Im schummrigen Licht des Beobachtungsraums hatte sie seinem Äußeren nicht viel Beachtung geschenkt, aber nun hatte sie Gelegenheit, ihn eingehender zu betrachten. Seine aalglatte Art hatte sich unter dem wachsenden Druck des Falles verflüchtigt. Er hatte dringend eine Rasur nötig, seine Haare standen wild vom Kopf ab, und sein Anzug war zerknittert. Die Krawatte saß schief, und unter seinen Augen waren dunkle Ringe zu sehen. Bei den Pressekonferenzen war ihr das bisher nie aufgefallen, vielleicht putzte er sich für solche Gelegenheiten extra heraus.
So müssen Schauspieler aussehen,
dachte sie,
wenn sie gerade nicht vor der Kamera stehen.
Ihr kam das Seminar über »Chimärische Masken und Dissoziation in der Wahrnehmung des Selbst« in den Sinn, das sie gegeben hätte, wenn sie noch an der Universität gewesen wäre.
Wie wahr, wie wahr,
dachte sie.
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, antwortete sie und fuhr fort, ihre Tasche zu packen. »Ich wollte gerade gehen.«
»Wohin denn?«
»Weg.«
»Weg wohin?«
»Zurück zu meiner Arbeit.«
Er nickte. »Sie meinen, Sie wollen uns verlassen? Endgültig?«
Sie hielt inne und sah ihn an. »Warum nicht? So gut ist die Bezahlung nicht, dass ich Lust habe, weiterhin Ihre Verbalattacken über mich ergehen zu lassen. Zu behaupten, dass Sie meine professionelle Meinung und meine Ratschläge nicht zu schätzen wissen, ist noch vornehm ausgedrückt. Alles, was ich bisher gesagt habe, wurde von Ihnen verspottet und als Unsinn abgetan. Und das auch noch vor dem gesamten Team.« Sie spürte, wie ihre Stimme lauter wurde, und wusste, dass die Umsitzenden sie neugierig anstarrten. Es war ihr egal. »Nun ja, ich ...«
Aber Marina war gerade erst in Fahrt gekommen. Zeit für ein paar unbequeme Wahrheiten. »Sie fragen mich nach meiner Meinung, und wenn ich sie Ihnen sage, ignorieren Sie sie, weil sie Ihnen nicht in den Kram passt. Und jetzt haben Sie einen Unschuldigen in der Verhörzelle sitzen ...«
»Unschuldig kann man ihn wohl kaum nennen.«
Sie spürte, wie sie rot wurde. Ihr Zorn wuchs. Sie sprach leise, aber bestimmt: »Zumindest hat er nichts mit dem Verbrechen zu tun, für das Sie ihm auf Biegen und Brechen die Schuld in die Schuhe schieben wollen. Nun, viel Glück dabei.« Sie stand auf und schwang sich die Tasche über die Schulter. »Ich schicke Ihnen die Rechnung.«
»Warten Sie.« Er legte ihr eine Hand auf den Arm. Sie blieb stehen und sah ihn an. In seinem Blick lag mehr als bloße Zerknirschtheit. Da war auch eine verzweifelte Hoffnung. Die Art von Hoffnung, die ein Schiffbrüchiger empfindet, wenn er sich an ein Wrackteil klammert, um nicht zu ertrinken. »Bitte, setzen Sie sich doch wieder. Gehen Sie noch nicht. Lassen Sie uns erst reden. Bitte.«
Marina wusste, was sie hätte tun sollen. Seine Hand abschütteln und machen, dass sie wegkam. Aber das tat sie nicht. Stattdessen ließ sie den Riemen ihrer Tasche wieder von der Schulter gleiten und setzte sich. Sie war noch immer verstimmt und sagte nichts, saß bloß kerzengerade da und wartete.
»Es tut mir leid«, meinte Fenwick schließlich.
Sie wartete weiter, immer noch schweigend. Sollte er sich ruhig anstrengen. Bestimmt würde noch mehr kommen.
Sie irrte sich nicht. »Ich hatte ... ich hatte unrecht.« Er seufzte. »Ja. Ich habe mich geirrt. Ich gebe es offen zu. Es war falsch, Ihre Argumente zu ignorieren. Und es war mit Sicherheit falsch, so mit Ihnen vor der versammelten Mannschaft zu sprechen, wie ich es getan habe. Das war unverzeihlich. Ich war ... ich habe mich danebenbenommen.« »Das kann man wohl sagen.«
Er nickte. »Und das tut mir leid.« Wieder ein Seufzer. Dabei ließ er seine Schultern fallen, als würde die Luft aus ihm herausgelassen. »Sehr sogar.« Er rieb sich die Augen, dann mit beiden Handflächen das Gesicht. »Aber wir ... wir brauchen dringend ein Ergebnis. Und zwar schnell. Es kommt mir vor, als würde die ganze Welt auf uns schauen.«
Trotz der Situation musste Marina ein Lächeln unterdrücken.
Fürst Floskel reitet wieder.
»Und das entschuldigt Ihr Verhalten mir gegenüber? Ihre verzweifelten Versuche, einen Schuldigen zu finden - egal, wen? Die Art, wie Sie sich an jeden Strohhalm
Weitere Kostenlose Bücher