Entrissen
stand auf und zog seinen Mantel zurecht, um seine Erektion zu verbergen. Mit einem Mal fühlte er sich elend, als hätte er sich einen Virus oder eine Lebensmittelvergiftung eingefangen. Er zitterte am ganzen Körper und hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen.
Sophie schnappte sich ihre Reisetasche und stand ebenfalls auf. Dann hakte sie sich bei ihm unter und schob ihn zur Tür. Sobald sie draußen waren, blieb sie stehen und sah ihn an.
»Hast du auch solchen Hunger? Ich hab den ganzen Tag noch nichts gegessen.« Erneut griff sie nach seinem Arm. »Schließlich muss ich für nachher noch Kräfte sammeln. Komm, lass uns irgendwo was essen gehen.«
Essen war das Letzte, wonach Clayton in diesem Augenblick zumute war. Aber er wusste, dass ihm keine Wahl blieb. Von dem Moment an, als er Sophie auf Brothertons Schrottplatz gesehen hatte, hatte er geahnt, dass alles den Bach runtergehen würde. Wieder fragte er sich, was seine Mutter wohl dazu sagen würde.
»Na, komm schon«, sagte sie und hüpfte fast die Straße hinunter.
Clayton ließ sich von ihr mitziehen, ungefähr so erwartungsvoll wie ein Todeskandidat angesichts seiner bevorstehenden Verabredung mit dem elektrischen Stuhl.
58
Marina betrat das Wohnzimmer und sah sich um.
»Na, kommt es dir bekannt vor?« Phil schloss die Tür hinter sich und blieb neben ihr in der Mitte des Raumes stehen.
Sie schaute sich um, betrachtete sein Zuhause. Die Bücher, an die sie sich noch gut erinnern konnte. Die vielen CDs. Seine kleine, aber feine DVD-Sammlung. Die meisten Titel waren Klassiker, Hitchcock und Film Noir. Die Wohnung wirkte nicht allzu maskulin, sondern auf schlichte Weise gemütlich. Zwei Sofas. Statt einer einzigen Deckenleuchte mehrere kleine Tischlampen, die warmes, gedämpftes Licht verbreiteten. Stilvolle Drucke an den Wänden: Rothko und Hopper. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte. »Es sieht noch genauso aus wie beim letzten Mal«, sagte sie.
»Ein Glück, dass ich heute Morgen aufgeräumt habe.«
Ihr Lächeln wurde kokett. »Hast du etwa damit gerechnet, dass du heute Abend jemanden mit nach Hause bringst?«
Er öffnete den Mund. Eine Sekunde lang schien es, als wolle er eine ehrliche Antwort geben, doch dann fing er ebenfalls an zu grinsen. »Mit so was muss ich immer rechnen.«
Sie lachte. »Du bist erbärmlich.« Sie wollte sich hinsetzen, aber dann fiel ihr Blick auf ein CD-Cover, das auf der Stereoanlage lag. Sie nahm es sich und musste lächeln. Elbow.
Phil zuckte beiläufig mit den Schultern. »Gutes Album.«
»Und ob.« Sie nickte und legte die CD wieder zurück. Sie ließ sich aufs Sofa sinken, und urplötzlich schlug ihre Stimmung um. Ihr Lächeln war verschwunden. Sie seufzte.
Phil musterte sie besorgt. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja«, sagte sie automatisch. Dann ein weiterer Seufzer. »Nein. Zu sehen, was wir heute gesehen haben ... ich bin einfach ... Warum tun Menschen so etwas, Phil?«
»Du bist die Psychologin, sag du es mir.«
Sie legte ihre Hände aneinander. »Ich habe dir mal etwas gesagt. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr daran.«
»Vielleicht doch.«
»Bei unserem ersten Date. Du hast mich gefragt, warum ich Psychologin geworden bin. Ich habe dir gesagt, weil ich meinen Vater verstehen wollte. Ich habe gelogen. Eigentlich wollte ich mich selbst verstehen. Außerdem habe ich gesagt, dass Psychologen eigentlich nur auf der Suche nach Heimat sind. Das stimmt auch nicht ganz. Nicht nur uns Psychologen geht es so, sondern allen Menschen. Jeder Mensch sucht nach Heimat.« Sie hob den Kopf und betrachtete ihn. »Sogar du.«
Er widersprach ihr nicht.
Sie fuhr fort. »Wir alle wollen uns behütet fühlen, wollen einen Ort finden - in der Welt, in unserem Kopf, in unserem Herzen -, an dem wir verstanden werden. Einen Ort, an dem wir zu Hause sein können.«
Phil nickte, sagte aber noch immer nichts.
»Und dann denke ich daran, was wir heute gesehen haben. Und daran, was wir tun müssen, um solche Menschen zu überführen. Was ist ihre Vorstellung von Heimat? Wo sind ihr Kopf und ihr Herz? Ich muss versuchen, sie zu verstehen. Ich muss in meinen Kopf und in mein Herz blicken und dort Parallelen finden. Das ist meine Aufgabe.«
»Und der Abgrund blickt auch in dich hinein. So ist das nun mal.«
»Ich weiß.«
Er drehte sich zu ihr um. »Hör zu, Marina. Du bist die beste Psychologin, mit der ich je zusammengearbeitet habe. Das weißt du. Du wirst das schaffen.« Er sah
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