Entrissen
sagen. Sie verabschiedeten sich und überließen Erin O'Connor ihren Gedanken, ihrem Wein, ihrem Reihenhaus und ihren Zukunftsplänen.
Draußen wickelte Marina sich fest in ihren Mantel. Phil sah sie an.
»Zeitverschwendung«, sagte er. »Nur eine weitere Frau, die auf das Geld der Männer aus ist.«
Marina zuckte mit den Schultern. »Du triffst wohl viele von der Sorte, was?«
Er lächelte. »Nur beruflich. Nicht privat. Komm, ich bring dich nach Hause.« Er ging zu seinem Wagen. Marina zögerte und blieb stehen, wo sie war.
»Nein«, sagte sie.
Er drehte sich um und wartete darauf, dass sie nachkam. Sie rührte sich nicht vom Fleck. Er hatte keine andere Wahl, als zu ihr zurückzugehen. »Was ist los?«
Sie antwortete nicht sofort. Phil bemerkte einen Ausdruck in ihrem Gesicht, den er nicht zu deuten vermochte. Als ob sie sich nicht entschließen konnte. Schließlich begann sie zu sprechen.
»Ich ... ich ... will nicht nach Hause.« Sie sah ihn dabei nicht an.
Phil wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. »Wieso nicht? Was ... was ist los?«
»Nichts«, versicherte sie hastig. »Na ja ...«
Phil spürte ein Flattern in der Brust. Diesmal war es keine Panikattacke, sondern etwas anderes, wenngleich nicht weniger Gefährliches. Hoffnung?
Er stand direkt vor ihr. Als er sprach, war seine Stimme weich und sanft.
»Stimmt irgendetwas nicht? Du kannst es mir sagen.«
»Es ist ...« Ihre Hand wanderte zu ihrem Gesicht. Sie wischte sich fahrig über die Augenwinkel, als ärgere sie sich darüber, dass sie weinte. Noch dazu in Phils Gegenwart.
»Was? Sag es mir doch.«
Marina seufzte und sah sich um, sie konnte Phil nicht ansehen. Die Straße war schmal. Auf beiden Seiten standen Reihenhäuser, und am Straßenrand parkten dicht an dicht Autos, so dass nur ein Fahrzeug auf einmal die Straße passieren konnte. Die Nacht war kalt. Beim Ausatmen stießen sie weiße Dampfwolken aus.
»Ich ...« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wollte nicht ... Ich habe mir fest vorgenommen, es nicht zu tun ...«
Phil wartete ab. Beobachtete, wie der Atem seinen Mund verließ und sich in der Dunkelheit auflöste.
»Was ich heute gesehen habe ... ich kann danach nicht einfach so nach Hause gehen. Das alles mitnehmen.« Dann fügte sie leiser hinzu: »Nicht schon wieder.«
»Aber wo willst du sonst hin, Marina?« Phil war sich nicht sicher, ob er seine Worte ernst meinte. Aber sagen musste er sie.
Sie sah zu ihm auf. »Ich weiß wohin.« Ihre Blicke trafen sich.
Phil wusste nicht, was er sagen sollte. Dies war der Moment, auf den er seit Monaten gewartet hatte. Der Moment, vor dem er sich monatelang gefürchtet hatte.
Sie wandte sich ab und blickte erneut die Straße hinunter. Sie waren die einzigen Menschen weit und breit. »Ich ... ich habe dich vermisst. Ich habe dich so vermisst...«
»Ich habe dich auch vermisst«, sagte er und konnte sein Glück kaum fassen.
»Aber es ging nicht. Wir konnten nicht. Nicht nach ...« Sie stockte und brach ab. »Und dann das heute. Alles, was heute passiert ist ...« Sie sah ihn wieder an. »Heute habe ich Dinge gesehen, die ich nur aus Büchern kenne. Wie kann ich danach einfach so nach Hause gehen?« Ihre Stimme wurde so leise und zerbrechlich wie das Flüstern eines Kindes. »Und wenn ich Alpträume bekomme?«
»Ich werde für dich da sein.« Er lächelte sanft. »Vielleicht bekomme ich ja auch welche.«
Sie lächelte, und Tränen begannen wieder zu fließen. Sanft legte Phil die Arme um sie, und sie ließ sich in seine Umarmung fallen. Sie hob ihr Gesicht, und ihre Blicke trafen sich. Im Laternenschein funkelten ihre tränenfeuchten Augen wie Diamanten.
Mitten auf der kalten, engen Straße küssten sie sich. Und Phil, der vor wenigen Minuten noch zu Tode erschöpft gewesen war, fühlte sich lebendiger als je zuvor.
57
Das Hole in the Wall war, genau wie der Name des Pubs es vermuten ließ, ein Loch in der Wand. Die alte römische Stadtmauer, die Colchester umgab und das historische Erbe der Stadt weithin sichtbar machte, war über Jahrhunderte hinweg erhalten und immer wieder restauriert worden. Der Pub war in die ehemalige Baikerne Gate hineingebaut, eine alte römische Durchfahrt, und konnte ebenfalls auf eine recht lange Geschichte zurückblicken. Er lag nahe des Stadtzentrums, zog aber weder Soldaten noch übermäßig viele Gäste aus dem Stadtzentrum an, was nicht nur weniger Prügeleien bedeutete, sondern für Clayton auch eine geringere Chance, hier auf einen
Weitere Kostenlose Bücher