Entrissen
zum Beispiel weiß mit einem Messer umzugehen. Vielleicht schlachtet er Tiere? Arbeitet in einem landwirtschaftlichen Betrieb? Oder in einem Schlachthaus? Dazu kommt der Umstand, dass ihm die Opfer völlig gleichgültig sind. Ein Stück Fleisch, nicht mehr.«
Sie blickte der Reihe nach in die Gesichter der versammelten Kollegen. Sie hatte ihre volle Aufmerksamkeit.
»Anfangs dachte ich, unser Mörder gehört zur ersten Sorte, ist also ein Psychopath. Wenn man darüber nachdenkt, wäre das sogar besser. Jemand, der vollkommen wahnhaft ist. Nur ein Ziel kennt. Jemand, der nicht daran interessiert ist, uns herauszufordern oder mit uns zu kommunizieren. Er tut, was er tut, und das aus einem einzigen Grund. Er will etwas. Das Baby. Er kann sich nicht vorstellen, von der Polizei gefasst zu werden, weil er einfach nicht daran denkt. Er ist clever, schlau wie ein Tier. Das sollte es, zumindest in der Theorie, einfacher machen, ihn zu schnappen. Aber ...« Gespanntes Schweigen.
»Falls es zwei sind, könnte einer der Psychopath sein und der andere der Soziopath ...« Sie merkte, wie eine Idee sich in ihrem Kopf zu formen begann. »Wenn es tatsächlich zwei Täter sind, dann wählt vielleicht der eine, der Soziopath, die Opfer aus ...«
»Und der andere schlitzt sie auf?«, fragte Anni. »Es ist nur eine Theorie.«
»In dem Fall gäbe es da noch eine dritte Möglichkeit«, sagte Phil.
Alle sahen ihn an.
»Eine gespaltene Persönlichkeit. Wäre das denkbar?«
»Vielleicht«, meinte Marina. »Zwei Persönlichkeiten in einer Person. In gewisser Weise ist das sogar noch beängstigender. Aber im Wesentlichen gelten dieselben Prinzipien.«
»Also, wie fassen wir ihn - oder sie?«, wollte Phil wissen.
»Nun, ich glaube nicht, dass er in Colchester wohnt. Ich vermute, er kommt in die Stadt, um zu morden. Das geographische Profil stützt diese These. Die Tatorte sind über die ganze Stadt verstreut, das bedeutet, dass er seine Opfer auf eine andere Weise aussucht.«
»Wie denn?«, fragte Phil.
»Ich weiß es nicht«, gestand Marina. »Aber ich glaube, diese Frage ist der Schlüssel. Wenn wir herausfinden, wie er sie auswählt, dann haben wir ihn.« Sie nickte Phil zu. Jetzt war er an der Reihe.
»Danke, Marina. Also. Ich will, dass heute jeder einzelne Fall noch einmal gründlich durchgegangen wird.« Er blickte in die Runde. »Sämtliche Ähnlichkeiten müssen festgehalten werden. Lesen Sie alle Berichte - das ganze Programm. Marina, würdest du dabei helfen? Ich möchte, dass du mit Anni zusammenarbeitest. «
»Sicher.«
»Gut. Alles, was irgendwie aus dem Rahmen fällt, muss notiert werden. Dann können wir es mit Brotherton und den Eades' gegenchecken und nach weiteren Gemeinsamkeiten suchen. Die Kriminaltechnik ist noch mit den Spuren der letzten beiden Morde beschäftigt. Bis jetzt gibt es keine eindeutige DNA, aber sie suchen weiter. Und da wäre noch etwas anderes. Ich weiß nicht, wie wichtig es ist.«
Sie warteten.
»Sophie Gale hat ihrem Freund den Laufpass gegeben. Brothertons Anwältin hat eben angerufen.« Er berichtete ihnen von dem Telefonat.
»Meinen Glückwunsch«, meinte Anni.
»Wir sollten sie trotzdem im Auge behalten. Und noch einmal mit ihr reden.« Erneut ließ er den Blick durch den Raum wandern. Trotz der allgemeinen Müdigkeit waren alle voller Tatendrang. »Dann los, wälzen Sie die Akten. Gute, alte Ermittlungsarbeit. Claire Fieldings Baby haben wir vielleicht verloren, aber es gibt noch ein zweites irgendwo da draußen, und die Uhr tickt. An die Arbeit.«
Sie verließen nacheinander den Raum.
Als Marina aufstand, trat Phil zu ihr, um mit ihr zu reden.
»Marina«, rief Anni. »Kommen Sie, setzen wir uns zusammen. «
Marina warf Phil einen Blick zu, zuckte entschuldigend mit den Schultern und wandte sich um. Phil ging allein hinaus.
61
Clayton konnte sich nicht konzentrieren. Er saß an seinem Schreibtisch und ließ den Blick ziellos durch den Raum wandern. Er sah die Wände an und zum Fenster hinaus - überallhin, bloß nicht auf den Bericht, der aufgeschlagen vor ihm lag.
Von den Mordermittlungen war er ausgeschlossen worden, und er hasste es, untätig herumzusitzen. Er wollte die Arbeit eines Polizisten machen - eines richtigen Polizisten. Stattdessen war er zum Schreibtischdienst verdonnert worden. Er beobachtete seine Kollegen. Wusste genau, was sie über ihn dachten. Sie wussten Bescheid.
Sie wussten Bescheid.
Sein Herz hämmerte in der Brust, seine Hände zitterten.
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