Entrissen
Aber wie viel wussten sie genau? Wenn sie alles wussten, dann war er erledigt, finito. Aber wenn nicht... dann hatte er vielleicht noch eine Chance. Eine hauchdünne. Er hätte Sophie niemals erlauben dürfen, bei ihm zu wohnen. Er hätte auch das mit dem Blowjob niemals zulassen dürfen. Dass er sich überhaupt je mit ihr eingelassen hatte, war ein Riesenfehler.
Er wollte doch nichts weiter als ein guter Polizist sein. Von seinen Kollegen respektiert und gemocht werden. Und natürlich von den Frauen. Aber damit war jetzt wohl Schluss. Weil er ein Schwächling war. Und weil Schwächlinge idiotische und feige Dinge taten. Zum Beispiel sich auf Sophie einlassen.
Erneut sah er sich um. Phil saß an seinem Schreibtisch und nahm sich gerade einen Stapel Akten vor. Er hatte den Kopf gesenkt, war ganz auf seine Aufgabe konzentriert. Dass Clayton ihn anstarrte, bemerkte er nicht. Millhouse klebte wie üblich vor seinem Rechner, gefangen in seiner virtuellen Welt.
Aber es waren Marina und Anni, die ihm am meisten Sorge bereiteten. Anni hatte sich einen Stuhl herangezogen und neben Marina gesetzt, und gemeinsam brüteten sie nun über Berichten, gingen Vernehmungsprotokolle und Fotos durch. Jedes Mal, wenn er verstohlen zu den beiden hinüberschaute, sah er, wie Anni ihn durch den Raum hinweg anstarrte. Er wandte dann hastig den Blick ab und fühlte sich schuldig.
Sie hatte ihn nicht verraten, sonst hätte Phil längst etwas gesagt. Aber es war nur eine Frage der Zeit. Solche brisanten Informationen würde sie nicht einfach unterschlagen. Sie war genauso ehrgeizig wie Clayton und würde niemals riskieren, dass sie in den Verdacht geriet, das Fehlverhalten eines Kollegen gedeckt zu haben.
Früher oder später würden sie herausfinden, wo Sophie war. Weil sie vielleicht noch mal mit ihr sprechen wollten. Und dann...
Er musste sich zusammenreißen. Sich einen Plan zur Schadensbegrenzung überlegen. Seufzend beugte er sich wieder über seine Akten.
Aber noch immer war er mit den Gedanken ganz woanders.
Anni las das Vernehmungsprotokoll nun schon zum zweiten Mal. Geraint Cooper, Claire Fieldings Lehrerkollege. Sie kam ans Ende, las es erneut. Ließ schließlich das Blatt sinken und rieb sich die Augen.
»Nichts?«, fragte Marina und sah auf.
»Ich glaube, es ist bloß ... Ich will unbedingt eine Verbindung finden, so dass ich mir schon Sachen einbilde ...«
»Machen Sie doch eine Pause«, schlug Marina vor.
Doch Anni schüttelte den Kopf. »Später.« Geistesabwesend griff sie nach der neben ihr stehenden Mineralwasserflasche und trank einen Schluck. »Also. Weiter geht's. Verbindungen zwischen den Opfern.« Sie warf einen Blick auf die Liste, die sie gemacht hatte. »Lisa King. In einem leerstehenden Haus getötet. Hatte Ryan Brotherton bei der Immobiliensuche betreut. Susie Evans. Prostituierte. Ryan Brotherton war einer ihrer Freier.«
»Und Sophie Gale«, ergänzte Marina. »Sie hat er durch Susie kennengelernt.«
Anni nickte. »Sophie wiederum hat als Informantin für die Polizei gearbeitet. Im Gegenzug durfte sie in Ruhe ihrem Geschäft nachgehen. So weit, so gut. Claire Fielding und Julie Simpson. Brothertons Lebensgefährtin und ihre beste Freundin. Dann Caroline Eades.« Sie blätterte im Papierstapel auf dem Schreibtisch. »Da gibt es keine Verbindung. Nichts.«
»Caroline Eades ... war sie nie berufstätig?«
»Ihr Mann leitet die Filiale einer Personalleasing-Agentur. Sie war immer nur Hausfrau und Mutter. Es gibt keine Verbindung zu den anderen Opfern.«
Marina lehnte sich zurück und spielte mit ihrer Lesebrille. »Was wissen wir über Sophie Gale?«
Anni blätterte in ihren Unterlagen und zog schließlich ein Blatt Papier hervor. »Geborene Gail Johnson. Erste bekannte Adresse in New Town. Wurde bei einer Razzia verhaftet, freigelassen, arbeitet seitdem für die Polizei. Hat irgendwann ihren Namen in Sophie Gale geändert.«
»Sie hat sich neu erfunden.«
»In gewisser Weise. Eine Zeitlang war sie von der Bildfläche verschwunden, dann ist sie an der Seite von Ryan Brotherton wiederaufgetaucht.«
»Also müssen wir annehmen, dass die beiden sich schon länger kennen. Privat und beruflich.«
Anni nickte. »Genaueres werden wir wohl nie erfahren. Sie ist verschwunden.«
»Meinen Sie nicht, dass sie irgendwann wiederauftaucht?«
Anni lächelte schwach. »Doch, ich denke schon. So ist das mit Frauen wie ihr meistens. Und vermutlich im Schlepptau eines Mannes.«
Marina musste plötzlich an
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