Entrissen
durchgesehen haben, sollte ich es Ihnen sagen. Beim ersten Mord wurde das Baby im Bauch seiner Mutter getötet. Beim zweiten wurde es entfernt, starb aber ebenfalls. Von dem Baby bei dem Mord von heute Morgen allerdings fehlt jede Spur.«
»Oh Gott...«
»Also, zaubern Sie ein bisschen für uns. Je schneller, desto besser.«
Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, und Marina wusste nicht, ob das als Trost oder als Herablassung zu verstehen war, dann entfernte er sich und ließ sie allein.
Sie sah auf die Unterlagen vor sich, dann zu ihrem Notizbuch. Erneut schlug sie die Akte von Susie Evans auf und begann zu lesen. Sie war hier, um eine Aufgabe zu erfüllen.
Schon nach kurzer Zeit war sie ganz in ihre Arbeit vertieft und merkte daher nicht, dass jemand neben ihr stand, bis dieser Jemand das Wort an sie richtete.
»Hey.«
Schlagartig wurde ihr die Kehle eng, und sie hörte auf zu lesen. Sie wollte aufsehen, traute sich das aber erst, als sie sich ein wenig gesammelt hatte.
»Selber hey.«
Er sah gut aus. Vielleicht ein wenig dünner, aber das stand ihm nicht schlecht. Sie rang sich ein Lächeln ab und setzte sich aufrecht hin. »Dann bist du also immer noch hier.«
»Man hat versucht, mich loszuwerden, aber ich bin immer wieder angekrochen gekommen.«
»Ein bisschen wie ich«, meinte sie.
Phil schmunzelte, dann sah er sich im Raum um, als fürchte er, dass die Leute sie vielleicht beobachteten. Marina war sich nicht sicher, wie viele über ihre Beziehung oder deren Ende Bescheid wussten, und sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie hob die Kaffeetasse an die Lippen, um es zu verbergen. Kalt. Sie verzog das Gesicht und stellte sie zurück auf den Tisch.
»Ich hole dir frischen«, erbot er sich.
»Lass nur. Ich glaube kaum, dass er dann besser schmeckt.«
Schweigen. Sie sah, wie Phils Lippen sich bewegten, als probe er, was er gleich sagen wollte. Wusste aber, dass er es nicht sagen würde.
»Ben Fenwick kümmert sich um dich?«, fragte er schließlich.
»Liest mir jeden Wunsch von den Augen ab.« Erneut schenkte Phil ihr ein Lächeln. »Tatsächlich? Du hast alles, was du brauchst?« Sie nickte.
»Gut.« Wieder ging sein Blick durch den Raum, dann zurück zu ihr. »Wie geht es ...« Er verstummte.
Sie wusste, dass er nur so tat, als habe er den Namen vergessen.
»Tony«, half sie ihm auf die Sprünge. »Tony. Richtig. Geht es ihm gut?«
»Bestens.« Sie blickte in ihre Kaffeetasse. »Alles bestens. Könnte nicht besser sein.« Sie rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Auf einmal fühlte sich ihr Bauch riesig an.
»Na dann«, meinte Phil. »Du siehst so aus, als wüsstest du, was zu tun ist. Also lasse ich dich mal weiterarbeiten.«
»Gut.«
»Na dann.«
»Das sagtest du bereits.«
Er lachte. »Stimmt.« Lachte noch einmal. »Also ... ich bin sicher, wir sehen uns später.« »Später, ja.«
Er ging zu seinem Schreibtisch. Sie blickte ihm hinterher und schüttelte den Kopf.
Nein,
dachte sie.
Das ist das Letzte, was ich im Moment brauchen kann.
Sie senkte den Kopf und sah erneut auf die Unterlagen vor sich, konnte sich aber nicht konzentrieren. Zwischen ihr und Phil waren zu viele Dinge ungesagt geblieben. Dinge, über die sie sprechen mussten. Falls sie zu dem Schluss kam, dass sie das überhaupt wollte.
Wie auch immer, eine Aussprache würde warten müssen.
Sie machte sich wieder an die Akten. Diesmal ließ sie sich von nichts ablenken.
Denn davon hingen Leben ab.
13
Emma Nicholls ließ sich hinter ihrem Schreibtisch nieder und bedachte DC Anni Hepburn mit einem Lächeln, das darauf ausgelegt war, verbindlich und professionell zu wirken, in Wirklichkeit jedoch ihre Anspannung und mühsam zurückgehaltene Bestürzung verriet.
Sie war gekleidet wie für einen ganz normalen Arbeitstag als Schuldirektorin: ein schwarzes zweiteiliges Kostüm, darunter eine helle Bluse. Die Haare zu einem langen Bob geschnitten. Aber dies
war
kein normaler Arbeitstag. Zwei ihrer Lehrerinnen waren ermordet worden, und die Polizei war in ihre Schule eingefallen.
Anni war lange genug bei der Kriminalpolizei, um eine Distanz zu ihren Fällen entwickelt zu haben, die es ihr ermöglichte, ihre Arbeit effizient zu erledigen und trotzdem noch Mitgefühl für die Opfer empfinden zu können. Sie hoffte, dass ihr diese Fähigkeit nie abhandenkommen würde. Im Stillen nannte sie die Menschen, mit denen sie zu tun hatte, oft Trümmerseelen. Zerbrochene Existenzen, die sehnlichst darauf
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