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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Carver
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hofften, dass irgendjemand kam und sie heilte. Aber Anni war auch lange genug im Job, um zu wissen, dass das nicht immer möglich war.
    Emma Nicholls allerdings,
dachte sie,
würde irgendwann darüber hinwegkommen.
Sie hatte nicht gesehen, was Anni vorhin in Claire Fieldings Wohnung gesehen hatte, hatte nicht gerochen, was Anni gerochen hatte. Und, wie Emma Nicholls nicht müde wurde zu betonen, ihre Beziehung zu Claire Fielding und Julie Simpson war hauptsächlich beruflicher Natur gewesen.
    »Bitte verstehen Sie«, sagte Emma Nicholls und legte den Kopf zurück, als probte sie die Worte jedes Mal, bevor sie ihnen gestattete, den Mund zu verlassen, »dass meine Hauptsorge dieser Schule gilt.«
    »Selbstverständlich.«
    »Damit meine ich jeden hier. Das Wohl der Kinder und des Kollegiums sind in meinen Augen gleichermaßen wichtig.« »Verstehe.«
    Sie wählte ihre Worte sorgfältig, bevor sie fortfuhr. »Nachdem dies gesagt ist, muss ich hinzufügen, dass ich mich selten in die Angelegenheiten meiner Kollegen einmische, es sei denn, es handelt sich um gute Freunde oder aber man bittet mich ausdrücklich um Hilfe.«
    Anni nickte. Sie hatte die Aussage der Schulleiterin als das verstanden, was sie war: die Weigerung, persönlich Verantwortung für die Vorfälle zu übernehmen.
    »Verstehe.«
    Emma Nicholls' Büro war zweckmäßig wie auch anheimelnd eingerichtet. Urkunden hingen an den Wänden neben Stundenplänen, einem Schuljahreskalender und Bildern, die die Kinder für sie gemalt hatten. Sie schien beliebt zu sein, den Respekt aller zu genießen. Der Raum sah genauso aus, wie man sich das Büro einer Grundschuldirektorin vorstellte, fand Anni.
    Das Schulgebäude war alt, aber jüngst renoviert worden. Es war sauber, hell und strotzte geradezu vor positiver Energie und Lebensfreude. Die Arbeiten der Schüler, die überall die Gänge schmückten, ließen den Schluss zu, dass die All-Saints-Grundschule ein Ort war, an dem man Kinder ernst nahm und sie gut unterrichtete.
Schließlich sind wir ja auch in Lexden,
dachte Anni,
einem wohlhabenden Bezirk am Stadtrand von Colchester.
Sie hatte nichts anderes erwartet.
    Alle Schüler, oder zumindest die meisten, mit denen sie seit ihrer Ankunft in Kontakt gekommen war, schienen so voller Hoffnung, voller Leben und Begeisterung für die Welt um sie herum zu sein. Die Tatsache, dass die Polizei in ihre Schule gekommen war, hatte sie in helle Aufregung versetzt. Für sie war es nichts anderes als eine willkommene Unterbrechung der täglichen Routine. Aber als Anni und ihr kleines Team sich darangemacht hatten, das Kollegium zu befragen, hatte sie gewusst, dass die Kinder bald herausfinden würden, was der Grund für die Anwesenheit der Polizei war, ganz egal, wie diskret sie auch vorgingen oder wie einfühlsam und vorsichtig die Lehrer ihnen die Umstände erklären mochten. Es war völlig ausgeschlossen, dass der Mord an zwei Lehrerinnen - und zwei beliebten Lehrerinnen noch dazu, wenn sie den Kommentaren glauben konnte, die sie bislang gehört hatte - die Kinder kaltlassen würde. Und dann würden sie begreifen, dass die Welt nicht so war wie im Nachmittagsfernsehen, sondern dass sie ein schrecklicher, grausamer Ort sein konnte. Das war der Grund, weshalb Anni selbst nie Kinder gewollt hatte. Denn ganz gleich, wie sehr man sich bemühte, sie vor der Welt zu beschützen - früher oder später würde diese Welt sie einholen und ihren Tribut von ihnen fordern.
    »Also«, fuhr Anni fort, das Notizbuch aufgeklappt. »Waren Claire Fielding und Julie Simpson befreundet?«
    Emma Nicholls schien antworten zu wollen, doch dann seufzte sie stattdessen und ihr Blick schweifte ab. Die erzwungene Freundlichkeit in ihren Zügen wich einer düsteren Bedrücktheit. Wie ein Krebspatient, der sein Leiden einen Augenblick lang vergessen hat und sich nun wieder daran erinnert.
    »Es ist einfach schrecklich«, murmelte sie.
    Da Anni dem nichts hinzufügen konnte, nickte sie nur.
    »Mein Gott...«
    Ihre Stimmung wurde noch düsterer. Anni musste eingreifen. »Ms Nicholls«, sagte sie. »Es tut mir wirklich furchtbar leid, was passiert ist. Und mir ist klar, dass das eine denkbar unpassende Zeit ist, aber ich muss Ihnen einige Fragen stellen.«
    Emma Nicholls setzte sich kerzengerade auf. »Ich weiß, ich weiß. Sie haben ...« Wieder schweiften ihre Gedanken ab, und ihrer Miene war anzusehen, dass sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Dann gelang es ihr, sich zusammenzureißen. »Bitte

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