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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Carver
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das gerade gut. Es war kalt im Haus, und die Milch würde das Baby aufwärmen. Dann bekäme es ein bisschen Farbe im Gesicht und würde endlich lächeln.
    Sie schüttelte die Flasche in der Hand, um den Inhalt ein wenig abzukühlen. Dann trat sie zur Werkbank, hob das Baby mit einem kräftigen Arm hoch, hielt ihm den Sauger an die Lippen und sah es erwartungsvoll an. Aber es lag bloß da und hatte das Gesichtchen zu einer finsteren Grimasse verzerrt wie ein winziger Gargoyle. Nicht gerade das, was sie erwartet hatte. Außerdem wirkte es ziemlich schwach. Schwach und gelb. Wie ein sehr alter, sehr weiser Chinese in einem Tempel aus einem Kung-Fu-Film. Sie lächelte und betrachtete es erneut. Nein. Es sah gar nicht aus wie ein Chinese, bloß müde, als wolle es schlafen. Nun, das konnte es gerne tun. Nachdem es getrunken hatte.
    Sie fuhr mit dem Sauger der Flasche an seinen Lippen entlang und benetzte sie mit Milch. Sein Gesicht zuckte ein wenig. Diesen Vorteil nutzte sie und steckte ihm den Sauger ein Stückchen in den Mund. Das Baby schreckte zusammen.
    Hester lachte. »Na, da hast du ja fast die Augen aufgemacht!«
    Sie schob ihm den Sauger vollständig hinein. Es sollte nuckeln. Nuckeln war gut.
    Die Traurigkeit in ihrem Innern war noch da. Sie verdrängte sie, zusammen mit der Wut, die sie vorhin verspürt hatte. Jetzt war Zeit für Mutter und Kind. Eine Zeit der Zweisamkeit und des Glücks. Das hatte sie irgendwo gelesen. Sie setzte sich auf einen Stuhl. Es war alles nicht so, wie sie es erwartet hatte -aber irgendwo hatte sie auch gelesen, dass es allen Müttern so ging.
    Aber dies hier war ihr neues Leben, sagte sie sich. Endlich war sie eine ganze Frau. Ehefrau und Mutter.
    »Das hier bin ich«, sagte sie laut zum Baby. »Das hier bin ich. Und schau mal... ich bin ganz.«
    Das Baby antwortete nicht. Es lag bloß da und saugte. Es war zu schwach, um die Milch herunterzuschlucken, so dass ihm das meiste wieder aus dem Mund und über das kränklich gelbe Gesichtchen rann.
    Hester merkte nichts. Sie lächelte selig.
     

21
     
    »Das passt alles nicht zusammen«, sagte Marina bestimmt.
    Phil sah sie aufmerksam an. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was die anderen jetzt dachten:
Die Profilerin soll lieber bei ihren Gutachten bleiben und die Polizeiarbeit den Profis überlassen.
Aber sie hatte Mut, das musste man ihr lassen. Er unterdrückte ein Schmunzeln.
    Marina fuhr unbeirrt fort. »Ich weiß, dass ich mich noch nicht richtig in den Fall eingearbeitet habe. Bislang habe ich weder den Tatort besichtigt noch mit den Beteiligten gesprochen. Alles, was ich gemacht habe, ist heute Nachmittag die Akten durchzugehen. Und ich habe noch kein Täterprofil erstellt.« Sie wartete. Niemand unterbrach sie. »Aber nach allem, was ich über die vorangegangenen Mordfälle gelesen habe und was ich bisher über Ryan Brotherton weiß, kann ich mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass er nicht der Täter ist.«
    »Und warum nicht?«, fragte Fenwick, dessen Verärgerung deutlich zu spüren war.
    »Er ist jemand, der Frauen schlägt, kein Mörder. Das sind zwei grundverschiedene Typen von Gewalttäter.«
    »Er könnte doch beides sein«, wandte Fenwick ein.
    »Lassen Sie es mich erklären«, sagte Marina. »Jemandem, der seine Frau misshandelt, geht es vor allem darum, sein Opfer zu isolieren, es vom Rest der Welt abzuschneiden, damit er es immer unter Kontrolle hat. Er will seiner Partnerin weh tun, ja, aber er will sie nicht umbringen. Was würde sie ihm tot denn noch nützen? Er will sie lebendig, damit er sie weiter quälen kann.«
    Niemand reagierte. Das Schweigen im Raum wurde immer unangenehmer.
    »Jetzt zum Baby.« Marina hielt inne. »Wir gehen ja davon aus, dass Claire Fielding - oder vielmehr Claire Fieldings Baby - das eigentliche Ziel der Attacke war ... Nun, die meisten Männer von der Sorte, wie ich sie gerade beschrieben habe, wären sicherlich nicht gerade überglücklich, wenn ihre Partnerin schwanger würde. Sie sind infantil und bedürftig und wollen Aufmerksamkeit. Ein Baby würde ihnen diese Aufmerksamkeit streitig machen.«
    »Das würde sie doch wütend machen, oder nicht?«, fragte Anni.
    »Ja, aber nicht
so
wütend. Denn das Baby wäre trotz allem ein Teil von ihnen. Sie wären eifersüchtig, weil die Frau es in sich trägt, aber sie würden nicht versuchen, ihm etwas anzutun. Und dann sind da noch einige andere Punkte. Es gibt keine Verbindung zu den früheren Morden -«
    »Noch nicht«, merkte Fenwick an.

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