Entrissen
Wirklichkeit nichts als Ärger machte. Es lag in einer alten, rostigen Zinkbadewanne auf einer nicht mehr ganz sauberen Decke. Es war dasselbe Bettchen, in dem sie selbst und davor ihre ganze Familie als Baby geschlafen hatte. Aber Hester benutzte die Wanne nur, weil sie nichts anderes gefunden hatte - nicht etwa, weil sie an ihr als einem Familienerbstück hing. So funktionierte sie nicht. Als Baby hatte sie sich in dem Bettchen vielleicht sicher und geborgen gefühlt - aber das wusste sie nicht mehr. So weit reichte ihr Gedächtnis nicht zurück, oder sie hatte alles verdrängt. Überhaupt: Diese Erinnerungen gehörten zu einer anderen Person. Eine Person, die sie nie wieder sein wollte. Und auch gar nicht mehr sein konnte.
Sie ließ die Hände sinken. Das Baby gab immer noch keine Ruhe. Zwar war es nicht mehr dasselbe ohrenbetäubende Geplärre wie vorhin, sondern eher ein nicht enden wollender klagender Schmerzensschrei. Aber besser war das auch nicht, ganz im Gegenteil. Wenn überhaupt, war es noch schlimmer. Hester trat zur Wanne, packte das Baby unter den Armen, hob es hoch und blickte ihm geradewegs in sein zeterndes kleines schrumpliges Gesicht.
»Halts Maul!«, schrie sie. »Halt dein verdammtes Maul! Sonst... sonst...!« Sie schüttelte das Baby heftig vor und zurück, was jedoch lediglich bewirkte, dass seine Stimme merkwürdig zu leiern anfing. Das klang ziemlich komisch. Wenn die ganze Sache nicht so ärgerlich gewesen wäre, hätte sie vielleicht gelacht. »Halt dein Maul, sonst klatsch ich dich an die Wand! Genau! Das wird schon für Ruhe sorgen ...«
Aber das Baby schien sie nicht zu verstehen. Es weinte einfach immer weiter. Hester sah erst zur Wand, dann zum Bettchen, und ließ das Baby schließlich mit einem verärgerten Seufzer zurück ins Bett plumpsen. Es hüpfte einmal auf der Decke auf und ab und blickte sie einige Sekunden lang überrascht an. Vor lauter Schreck hatte es aufgehört zu schreien.
Hester musterte den Säugling. Dieser Geruch ...
»Du riechst... pfui...«
Das Baby machte Anstalten, wieder loszulegen. Das konnte man ihm ansehen. Sie musste sich schnell etwas einfallen lassen. Vielleicht musste es gewickelt werden? Vielleicht lag es daran. Es war immer noch in die Decken eingepackt, in denen ihr Mann es nach Hause gebracht hatte, und trug nicht mal eine anständige Windel. Noch nicht. Aber das würde sich gleich ändern. Sie hatte im Fernsehen gesehen, wie man Windeln wechselte. Die Babys lagen dabei immer auf dem Rücken, strampelten mit den Beinchen und lachten, während hübsche junge Mütter ihnen lächelnd den Hintern mit speziellen Feuchttüchern abwischten und ihnen dann eine frische Windel umlegten. Das war kinderleicht. Das konnte sie. Und wenn sie fertig war, würde das Baby wieder lachen. Und wenn das Baby lachte, dann würde sie selbst auch wieder lachen können. So einfach war das.
Sie räumte einen Platz auf der Werkbank frei, indem sie die Werkzeuge mit ihrem kräftigen, muskulösen Arm beiseiteschob und Sägemehl und Eisenspäne von der Oberfläche blies, bevor sie das Baby erneut aus der Wanne nahm. Es war noch immer still, wahrscheinlich vor Verwirrung, weil es ständig hin und her bewegt wurde. Hester lächelte. Sie tat genau das, was eine richtige Mutter getan hätte. Gut. Es funktionierte.
Sie begann das Baby aus den Decken zu schälen. Eine nach der anderen zog sie weg und ließ sie auf den Boden fallen. Die anhaltende Stille ermunterte sie auch dazu, wieder in Babysprache zu verfallen. Sie holte eine Windel aus der Packung und nahm einen Waschlappen, um das Baby damit abzuwischen.
»Auf alles vorbereitet«, gurrte sie. »Mami muss auf alles vorbereitet sein ...«
Zum ersten Mal betrachtete sie eingehend den Körper des Babys. Die Haut war pink und mit bläulichen Flecken gesprenkelt, genau wie in seinem Gesicht. Ein bisschen Gelb war auch mit dabei. War das richtig so? Sie bezweifelte es. Immerhin bewegte es sich noch, also musste es ihm wohl gutgehen. Aber ziemlich kalt fühlte es sich an. Musste das vielleicht so sein? Sie hatte immer gedacht, Babys müssten sich warm anfühlen. Noch etwas, wovon man im Fernsehen und in Büchern keine Ahnung hatte.
Hester lächelte in sich hinein. Vielleicht würde sie selbst mal ein Buch über Babys schreiben. Oder im Fernsehen auftreten und endlich die Wahrheit darüber erzählen, wie Babys wirklich waren. Mit diesem Gedanken begann sie, die letzte Decke aufzuwickeln.
Was darunter zum Vorschein kam, änderte
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