Entrissen
»Soweit wir wissen.«
»Noch nicht«, bestätigte Marina. »Außerdem gilt es den Umstand zu bedenken, dass der Täter Claire Fielding vorher unter Drogen gesetzt hat.«
Phil begriff, worauf sie hinauswollte. »Er hätte gewollt, dass sie schreit«, warf er ein. »Hätte sie leiden sehen wollen. Die Droge hätte das verhindert.«
Marina sah ihn an und lächelte. Phil konnte nicht anders, als es zu erwidern.
»Vielleicht wollte er bloß verhindern, dass sie das gesamte Haus aufweckt«, gab Anni zu bedenken.
»Das wäre eine Möglichkeit«, räumte Marina ein. »Aber lassen wir jetzt das Baby einmal einen Moment lang außer Acht und schauen wir uns an, was tatsächlich passiert ist.« Marina zeigte auf das Foto von Claire Fieldings Leiche, ohne es anzusehen. »Wir haben Claire Fielding. Ans Bett gefesselt, die Beine gespreizt. Warum?«
»Ein Ritual?«, schlug Phil vor.
»Das war auch meine erste Vermutung«, sagte sie. »Aber auf den zweiten Blick schien es mir mehr mit dem Wunsch nach Kontrolle zu tun zu haben. Ihr wurde ein Medikament injiziert, das Lähmungserscheinungen verursacht. Wie im Autopsiebericht stand: Wer auch immer das getan hat, ist kein Profi. Deswegen wusste er nicht genau, wie viel er von dem Mittel brauchen würde. Eine falsche Dosierung, und es hätte sein können, dass das Opfer schreit oder sich wehrt. Nach ihm tritt. Deswegen die Fesseln.«
»Das heißt...«, sagte Phil. »Es war kein Ritual, sondern ... was? Reine Zweckmäßigkeit?«
Marina nickte. »Ich denke schon. Und ihre Beine mussten gespreizt sein, weil...« Sie holte tief Luft.
»Ihm das so gefiel?«, fragte Phil.
»Vielleicht«, antwortete Marina. »Vielleicht ist die Lösung tatsächlich so einfach. Aber auch hier haben wir immer noch den Aspekt der Kontrolle, der Unterwerfung.« Sie warf einen erneuten Blick auf ihre Notizen. »Womit war sie gefesselt?«
Phil nahm seine eigenen Aufzeichnungen zur Hand. »Mit Stricken. Ziemlich dick. Auf die DNA warten wir noch.«
»Er war also vorbereitet«, folgerte Marina. »Er hat das Messer und die Stricke mitgebracht.«
»Und die Droge«, ergänzte Phil.
»Und die Droge.«
»Aber was ist mit dem sexuellen Aspekt?« Fenwicks Stimme wurde höher, er regte sich immer mehr auf. Phil fand, er sah aus wie ein Kind, dem man mitgeteilt hatte, dass seine Geburtstagsparty ins Wasser fallen würde.
»Laut Obduktionsbericht gibt es keine Hinweise auf Geschlechtsverkehr. «
»Das alles schließt Brotherton immer noch nicht aus«, beharrte Fenwick. »Vielleicht wollte er - ich weiß auch nicht -, vielleicht wollte er ihr zeigen, wer der Boss ist. Hätte er das nicht tun können, indem er ihr das Baby aus dem Bauch schneidet?«
Die Aufmerksamkeit im Raum wandte sich wieder Marina zu. »Wenn man es so formuliert, klingt es plausibel, ja«, räumte sie ein.
Fenwick hob seine Arme triumphierend hoch. »Na bitte.«
»Aber für wahrscheinlich halte ich es nicht. Außerdem müsste da noch die Möglichkeit in Erwägung gezogen werden, dass es vielleicht gar kein Mann war.«
»Was?«, rief Fenwick ungläubig. »Eine Frau?«
»Warum nicht?«
Damit war das Maß für Fenwick voll. »Weil eine Frau physisch gar nicht in der Lage ist, das zu tun, was unser Täter getan hat! Außerdem wurde jemand, auf den Brothertons Beschreibung passt, in der Nähe des Tatorts gesehen.«
»Betrachten Sie es logisch«, beharrte Marina. »Wer will Babys? Nicht Männer, sondern Frauen.« Sie hielt kurz inne, dann fuhr sie fort. »Ich verallgemeinere. Aber Sie verstehen, worum es mir geht.«
»Es könnte also eine sehr große, sehr wütende Frau gewesen sein«, meinte Anni. Hinter ihr schüttelte Fenwick den Kopf.
»Möglich wäre es«, sagte Marina. »Es gibt einige wenige dokumentierte Fälle, in denen etwas Ähnliches passiert ist, aber fast ausschließlich in den Vereinigten Staaten und immer vor dem Hintergrund einer persönlichen Beziehung zum Opfer. Der Partner verlässt die Frau, hat bald eine neue Freundin, schwängert sie. Die verschmähte Ex rächt sich, indem sie der Neuen das Baby herausschneidet.«
Im Raum zuckten alle zusammen.
»Oder es könnte ein Mann sein«, dachte Phil laut, »der es
für
eine Frau getan hat. Um ihr ein Baby zu besorgen.«
»Brotherton«, sagte Fenwick. »Für seine Freundin.«
Marina seufzte. Fenwick entging das nicht. »Haben Sie sonst noch etwas zu sagen?«
Marina schwieg mit gesenktem Kopf. Fenwick nickte. »Gut.«
Marina sah auf. Ihre Wangen glühten, und Phil sah das
Weitere Kostenlose Bücher