Entrissen
konkretes, praktisches Ziel fixiert zu sein.«
»Die Entführung eines Babys«, sagte Phil.
Sie nickte. »Alles andere ist nebensächlich. Der Zweck heiligt die Mittel. Zumindest in seinen Augen.«
»Wenn dieser Mörder also jetzt das Baby in seiner Gewalt hat«, warf Anni ein, »und es noch am Leben ist, dann ist das doch vielleicht gar nicht so schlecht, oder? Er hat jetzt, was er will.«
»Mag sein«, sagte Marina.
»Warum bloß >mag sein«, wollte Anni wissen.
»Weil wir nicht mit Sicherheit wissen, ob das Baby noch lebt«, sagte Phil. »Und ob es gut versorgt wird.«
Marina nickte. »Exakt. Was wäre, wenn - Gott bewahre -das Baby stirbt und er einen Ersatz braucht? Oder noch schlimmer: Was wenn er auf den Geschmack gekommen ist und noch ein paar Babys haben will?«
»Um eine Familie zu gründen«, meinte Phil und verzog das Gesicht.
Marina sah ihn an. Er erwiderte ihren Blick.
»Genau«, sagte sie leise.
Anni erschauerte. »Du liebe Güte.«
Einige Sekunden lang herrschte betretenes Schweigen, während das Team Phils Worte zu verdauen versuchte.
Die Stille dehnte sich. Nur von der Straße her drangen gedämpft Geräusche herein. Dort waren die Menschen gerade auf dem Heimweg von der Arbeit oder stürzten sich ins Feierabendvergnügen. In dieser anderen Welt jenseits der Fenster ging das Leben weiter wie bisher.
Die Tür zur Bar öffnete sich. Fenwick trat ein, einen triumphierenden Ausdruck im Gesicht.
»Also«, verkündete er, »ich habe gerade mit Chelmsford telefoniert. Sie haben die Observierung von Ryan Brotherton genehmigt, zunächst für vierundzwanzig Stunden. Überstunden sind bewilligt. Ich überlasse es Ihnen, einen Einsatzplan aufzustellen, Phil.«
Phil starrte ihn an.
»Ich habe dem Detective Superintendent gesagt - und er hat mir zugestimmt -, dass Brotherton morgen zum Verhör bestellt werden sollte.« Er wandte sich an Marina. »Selbstverständlich bin ich dafür, dass Sie dabei sind und ihn vom Beobachtungsraum aus im Auge behalten. Ich möchte wissen, was für einen Eindruck Sie von ihm bekommen.« Er blickte flüchtig in die Runde und deutete dann auf Phil. »Weitermachen.« Damit schritt er aus dem Raum.
Die Stille nach seinem Abgang war lauter als eine Bombenexplosion.
Die Tür öffnete sich ein zweites Mal. Alle drehten sich um. »Und?«, sagte Clayton. »Was hab ich verpasst?«
23
Detective Sergeant Clayton Thompson fuhr im Schritttempo die schmale Straße in New Town entlang. Zu beiden Seiten parkten Autos am Straßenrand, so dass auf der Fahrbahn nur für jeweils einen Wagen Platz war. Die Reihen dicht an dicht stehender, dunkler Backsteinhäuser verstärkten das Gefühl von Enge noch.
Die einzigen Menschen, die nach Einbruch der Dunkelheit in diesem Viertel unterwegs waren, lebten entweder hier, waren auf der Suche nach dem schnellsten Weg nach draußen oder hatten etwas zu erledigen. Freiwillig kamen die Leute jedenfalls nicht hierher.
Colchester galt als die älteste urkundlich bezeugte Stadt des Landes und war zur Römerzeit die Hauptstadt Britanniens gewesen. Die alte Mauer um den Stadtkern und das schachbrettartig angeordnete Straßennetz zeugten noch von dieser lange zurückliegenden Epoche. Darüber hinaus konnte die Stadt ein altes Schloss, ein Theater, ausgedehnte Parks und eine große Zahl an historischen Gebäuden vorweisen. Die University of Essex hatte hier ihren Sitz. Es gab Boutiquen, einige hervorragende Restaurants und Bars. Trotz der recht hohen Einwohnerzahl hatte Colchester die Atmosphäre einer kleinen, gemütlichen Marktstadt. Wohnsilos aus Beton oder heruntergekommene Viertel mit verwahrlosten Sozialwohnungen, die den Ausblick ruinierten, suchte man hier vergebens.
Aber eine Stadt brauchte nicht unbedingt Wohnsilos, um soziale Probleme zu haben. Auch in Colchester gab es Quartiere mit viel Armut und hoher Kriminalitätsrate, und New Town war eins von ihnen. Das enge Straßengewirr aus Edwar-dianischen Reihenhäusern erstreckte sich von North Hill und den letzten Ausläufern des Stadtzentrums bis zum Hythe Quay und dem Fluss. Die Gegend, in die Clayton unterwegs war, war schon übel genug, aber es gab Viertel in New Town, in die selbst ein furchtloser Mensch wie er bei Nacht keinen Fuß mehr gesetzt hätte. Schon gar nicht allein. Hier lebten Menschen, denen er nie wieder begegnen wollte - zumindest nicht ohne das Gitter einer Gefängniszelle dazwischen. Vor einiger Zeit hatten Stadtplaner den Versuch unternommen, die Gegend
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