Entrissen
aufzuwerten, indem sie teure Apartmentkomplexe zwischen die alten Reihenhäuser bauen ließen. Die Anwohner hatten sie gleich angenommen: In diesen neuen Gebäuden gab es die höchste Einbruchs- und Vandalismusrate der ganzen Stadt.
Clayton stellte seinen Wagen vor dem Pub an der Ecke ab, positiv überrascht, dass es dort noch einen freien Parkplatz gab, aber gleichzeitig in Sorge, weil er sein Auto unbeaufsichtigt lassen würde. Clayton liebte seinen 5er BMW über alles. Eine kostspielige Angelegenheit, was Benzinverbrauch und Wartung anging, von den monatlichen Finanzierungsraten, die er abzahlen musste, ganz zu schweigen. Aber das nahm er gern in Kauf. Dann musste man eben woanders Abstriche machen. Das war es allemal wert.
Er war in einem reinen Frauenhaushalt aufgewachsen. Eine Mutter und zwei Schwestern. Sein Vater war gestorben, als er sechs Jahre alt war. Seine Mutter hatte sich eigentlich eine Karriere bei der Bank für ihn erträumt, oder auf dem Amt - irgendetwas, das mit Geld zu tun hatte, etwas Anständiges und Sicheres. Aber sosehr er seine Mutter auch liebte und danach strebte, sie glücklich zu machen - dazu hatte er sich nicht durchringen können.
Sein Männlichkeitsideal entstammte fast vollständig Filmen, Fernsehserien und Videospielen. Das Prinzip war simpel: Hatte der Kerl den richtigen Wagen, kriegte er die richtige Frau. Ein lässiges Outfit schadete auch nicht. In diesem Sinne war ein Job bei der Polizei die natürliche Schlussfolgerung gewesen.
Und dann der Wagen.
Schon seit seiner Jugend hatte er davon geträumt. Jahrelang hatte er tagein, tagaus in Autozeitschriften geblättert und herumfantasiert, wie er ihn tunen würde, wenn er ihn endlich hätte. Tieferlegen, Alufelgen, Sportauspuff, eine neue Anlage - das volle Programm. Jetzt, mit neunundzwanzig, da er sich endlich den fahrbaren Untersatz seiner Träume leisten konnte, hatte er festgestellt, dass dieser gar kein Tuning mehr nötig hatte. So wie er war, war er perfekt. Zuerst hatte ihn das ein wenig traurig gemacht - er hatte das Gefühl, als sei mit seinen Tuningplänen auch ein Teil seiner Jugend gestorben. Aber er war jetzt erwachsen. Ein reifer, selbstbewusster Mann, der ganz in der Wirklichkeit lebte und keine Fantasievorstellungen und Tagträume mehr brauchte. Mit neunundzwanzig war er bereits Detective Sergeant, und er wollte noch höher hinaus. Nichts und niemand würde ihn aufhalten. Dafür würde er sorgen.
Er saß noch einen Moment bei laufendem Motor im Wagen. Aus der Anlage dröhnte Hip-Hop: The Game. Coole, harte Beats. Genau richtig, um ihn für sein bevorstehendes Treffen in Stimmung zu bringen. Er klappte die Sonnenblende herunter und prüfte seinen Gesichtsausdruck im Spiegel. Sie mussten Klartext reden. Und dann schweigen. Er musste voll da sein - keine Zweifel, keine Unsicherheit. Er holte einmal tief Luft, dann noch einmal. Auf keinen Fall würde er wegen dieser Sache seinen Wagen, seinen Lebensstil oder - noch wichtiger - seine Karriere aufs Spiel setzen. Auf keinen Fall. Er musste locker und bestimmt auftreten. Falls das nicht fruchtete, konnte er immer noch zu anderen Mitteln greifen - was auch immer nötig war. Ein weiterer tiefer Atemzug. Und noch einer. Wieder überprüfte er sein Gesicht - keine Zweifel, keine Unsicherheit. Er ließ die Sonnenblende zurückschnappen, zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und stieg aus.
Er öffnete die Tür zum Pub und trat ein. Innen sah der Laden genauso trist und deprimierend aus wie von außen. An einer Wand war abgewetztes rotes Kunstleder gespannt, die davor gruppierten Tische und Stühle waren allesamt alt und zerkratzt. Das Muster des Teppichbodens hatte sich durch Alter und verschüttete Getränke längst in ein undefinierbares Durcheinander dunkler Flecken verwandelt. An der Wand war ein Fernseher angebracht, über dessen Schirm farbenfrohe Bilder flimmerten und den wenigen Gästen, die hier ihr Bier tranken, vor Augen führten, was sie anderswo auf der Welt verpassten. Die halbkreisförmige Theke nahm die Mitte des Raumes ein. Der Barkeeper stand an einem Ende und unterhielt sich, Arme auf den Tresen gestützt, mit einem alten Mann, der so aussah, als sei er Teil des Inventars. An einem Ecktisch saßen zwei Männer. Clayton kannte sie. Sie waren Brüder, offiziell im Baugewerbe tätig, aber in Wirklichkeit verdienten sie ihr Geld auf andere Weise. Ein Großteil der Kriminalität im Viertel ging auf ihr Konto. Drogen, Prostitution - vermutlich kassierten
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