Entrissen
als Leid und Kummer zu bringen.
»Er war ein richtiger Widerling. Ein notorischer Lügner und ein Tyrann, der meine Mutter betrogen und geschlagen hat«, sagte Marina, und ihre Augen verfinsterten sich.
»Und das waren seine guten Seiten«, warf Phil ein, um sie aus ihren düsteren Erinnerungen wieder in die Gegenwart zu locken.
Sie musste schmunzeln, dann fuhr sie fort. Erzählte ihm, dass sie dafür in der Schule Anerkennung erfahren hatte. Die Lehrer hatten ihre Intelligenz gelobt und sie immer wieder ermuntert, ihren Weg zu gehen. Sie hatte begierig gelernt, fest entschlossen, ihrem Hintergrund zu entkommen.
»Dann sind Sie also nicht von hier? Ich höre gar keinen Akzent bei Ihnen.«
»Ursprünglich komme ich aus Birmingham«, sagte sie. »Und das ist ein Dialekt, den man so schnell wie möglich loswerden möchte.« Irgendwann habe sie ein Stipendium für Cambridge erhalten und beschlossen, Psychologie zu studieren.
»Ich glaube, mein Vater ist schuld, dass ich mich ausgerechnet dafür entschieden habe. Ich wollte endlich begreifen, warum er so war, wie er war. Warum er all diese schrecklichen Dinge getan hat.«
»Und - haben Sie es begriffen?«
»O ja. Aber eigentlich hätte es kein Diplom in Psychologie gebraucht, um zu erkennen, dass er ganz einfach ein mieser, fauler Scheißkerl war.«
Ihre Mutter sei während ihres Studiums an Krebs gestorben und habe nicht mehr die Gelegenheit gehabt, zu sehen, wie ihre einzige Tochter ihre Diplomurkunde entgegennahm. »Das tut mir so leid. Ich wollte immer, dass sie stolz auf mich sein kann.«
»Das ist sie ganz bestimmt.«
Marina nickte, hatte den Blick aber abgewandt.
»Und was ist mit Ihren Brüdern?«
Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Sagen wir einfach, sie sind in die Fußstapfen meines Vaters getreten. Ich bin mir sicher, Ihre Kollegen in den Midlands haben mehr Kontakt zu ihnen als ich.«
Phil hob eine Braue, hakte aber nicht weiter nach.
»Und Sie - stammen Sie aus Colchester?«, fragte sie. »Haben Sie Ihr ganzes Leben hier verbracht?«
»Noch nicht«, versetzte er in der Hoffnung, es würde ihr damit ein Lachen entlocken. Sie tat ihm den Gefallen, aber mehr aus Höflichkeit. »Sie sind also nicht verheiratet«, sagte er und wechselte das Thema. »Gibt es denn ... jemanden?«
Sie sah ihn mit unergründlicher Miene an. »Ich lebe mit jemandem zusammen.«
Phil wurde das Herz schwer. »Oh.«
Marina zuckte mit den Schultern. »Es ist... wir sind schon eine ganze Weile zusammen.« »Verstehe.«
»Er ist ... ich war seine Studentin. Er mein Dozent.« Sie hielt kurz inne. »Aber wir haben gewartet, bis das Semester zu Ende war. Na ja, mehr oder weniger. Er war für mich so etwas wie ...«
»Eine Vaterfigur?«
»Vermutlich.« Und dann, bevor Phil etwas sagen und erneut das Thema wechseln konnte, redete sie einfach weiter. »Wir sind schon so lange zusammen. Vielleicht wird es allmählich Zeit, dass ich ... manchmal komme ich mir vor wie seine ...« Sie blickte in ihren Wein und ließ ihn im Glas kreisen. »Keine Ahnung. Also, das ist meine Geschichte. Was ist mit Ihnen?«
Weil Marina so ehrlich zu ihm gewesen war, fand Phil, dass er ihr dasselbe schuldete. Er begann zu erzählen, und Marina hörte aufmerksam zu.
Er erzählte ihr von dem Schmerz, verlassen worden zu sein, und davon, wie es gewesen war, in verschiedenen Kinderheimen und Pflegefamilien aufzuwachsen, bis Don und Eileen Brennan ihn bei sich aufgenommen hatten.
»Sie haben mir alles gegeben, was mir bis dahin gefehlt hatte. Ein Zuhause. Das Gefühl, endlich dazuzugehören. Ein ... ich weiß auch nicht ... ein Ziel im Leben.« Er lächelte und trank einen Schluck von seinem Wein. »Tut mir leid. Es fällt mir schwer, darüber zu reden. Ich kann mich nicht sehr gut ausdrücken.«
Sie legte ihre Hand auf seine und lächelte. »Sie haben mir alles gesagt.«
Wieder trafen sich ihre Blicke, und ihre Augen sagten genau dasselbe.
Sie fuhren vom Restaurant direkt in seine Wohnung. Er hatte nicht die Zeit, ihren Körper auf sich wirken zu lassen, bevor sie begannen, sich zu lieben. Seine Nervosität verflog, und sie fanden rasch zu einem gemeinsamen Rhythmus. Instinktiv schien jeder zu ahnen, was dem anderen gefiel, als seien sie durch eine Art sinnliche Telepathie miteinander verbunden. Der Sex war heiß und intensiv, aber es ging dabei um mehr als nur rein körperliche Empfindungen.
Irgendwann, als sie gerade auf dem Rücken lag, die Beine um ihn geschlungen, hatte er die Augen
Weitere Kostenlose Bücher