Entrissen
dieselbe Farbe hatte wie der Wein, und das Kerzenlicht tanzte in ihren Augen.
»Warum nicht?«, fragte sie zurück und nahm einen genießerischen Schluck. Phil sah gebannt zu, als sich ihre glänzenden Lippen vom Glasrand lösten. »Sie sehen gut aus. Sie sind intelligent. Durchsetzungsstark, aber gleichzeitig sensibel.«
Phil lachte. »Ist das Ihre Einschätzung als Psychologin?«
Sie wiegte den Kopf hin und her. »Eher eine persönliche. Aber es stimmt. Ich kann es in Ihren Augen sehen.«
Phil wusste nicht recht, was er sagen sollte.
Sie lachte. »Und? Sind Sie gerne bei der Kriminalpolizei?«
Die Frage überraschte Phil. »Ja. Und sind Sie gerne Psychologin?«
Marina lächelte. »Man sagt ja gemeinhin, alle Psychologen seien verkorkst und bloß auf der Suche nach Heimat.«
»Man sagt auch, alle Polizisten seien rassistische Schläger.«
»Bestimmt nicht die mit den sensiblen Augen.«
Phil fühlte sich wegen ihrer Ehrlichkeit unwohl, gleichzeitig aber auch beflügelt. »Und ist das bei Ihnen auch der Fall? Sind Sie auf der Suche nach Heimat?«
Sie zuckte mit den Schultern und lächelte. »Zumindest bin ich auf dem richtigen Weg dorthin.«
Als Nächstes wollte sie wissen, was ihn an der Polizeiarbeit reizte. Erst wollte er sie mit einer Standardantwort abspeisen: die Arbeitszeiten seien gut, er müsse sich keine Sorgen um die Rente machen ... Aber als er sah, wie sie ihn forschend musterte, als wollten sich ihre Augen regelrecht in ihn hineinbohren, kam es ihm nicht über die Lippen. Sie hatte mehr Ehrlichkeit verdient, vor allem nach der Antwort, die sie ihm zuvor gegeben hatte.
»Na ja, es ist so: Es gibt einen Fall, man wird an einen Tatort gerufen. Etwas Schlimmes ist passiert - ein Raubüberfall, ein Mord, was auch immer. Meistens herrscht totales Chaos: Ein Haus wurde verwüstet, ein Leben zerstört, die Leute sind hysterisch und völlig hilflos.« Er zuckte mit den Schultern. »Und meine Aufgabe ist es, die Geschehnisse zu rekonstruieren. Ich muss herausfinden, was passiert ist, und dabei helfen, es wieder in Ordnung zu bringen.«
Sie sah ihn immer noch unverwandt an. Plötzlich fühlte er sich unbehaglich. Diese Frau war anders als alle, die er bisher kennengelernt hatte. Verlegen suchte er hinter seinem Weinglas Deckung. »Das ist eigentlich schon alles.«
Sie nickte langsam. »Haben Sie studiert?«
Er schüttelte den Kopf.
»Wollten Sie denn?«
Ein weiteres Achselzucken. »Irgendwie schon. Aber das stand damals nicht zur Debatte.«
Sie spielte mit dem Stiel ihres Glases herum, und auf ihrer Stirn, direkt oberhalb der Nasenwurzel, erschien eine entzückende kleine Falte. »Ich wette, Sie lesen gern.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Aber auf dem Revier sagen Sie es niemandem, damit man sich nicht über Sie lustig macht.«
Er dachte an die Regale in seiner Wohnung. Vollgestopft mit allem, was der Buchhandel zu bieten hatte, von Philosophie und Lyrik bis hin zu Biographien und Thrillern. Er hatte einen schier unstillbaren Wissensdurst, sehnte sich danach, die Welt zu begreifen. Die Wurzeln dieser Sehnsucht lagen, das wusste er, in seiner Kindheit. Aber noch hatte er nicht gefunden, wonach er suchte. Das Einzige, was ihm wirkliche Befriedigung verschaffte, war seine Arbeit bei der Polizei.
Er zuckte erneut mit den Schultern. Bei ihren Fragen wurde ihm immer unbehaglicher zumute.
»Sie hatten eine schwere Kindheit, stimmt's? Jemand hat Ihnen sehr weh getan.«
Schlagartig war sein Hochgefühl verflogen. »Tut mir leid, darüber rede ich nicht.«
»Nein,
mir
tut es leid«, sagte Marina hastig und blickte auf ihren Teller. »Ich habe das nur erwähnt, weil ich so ein Gefühl hatte, das ist alles. Weil ...« Sie hielt kurz inne. »Weil ich es wiedererkannt habe.« Sie sah auf und blickte ihm in die Augen. »Da ist etwas in Ihnen, das mich an mich selbst erinnert. Alte Wunden. Es tut mir leid, vielleicht irre ich mich.«
Phil sah sie an und schwieg. Sie streckte die Hand über den Tisch, und ihre Finger berührten sich. Wieder war es wie ein elektrischer Schlag. Als würde diese Berührung bestätigen, dass sie einander instinktiv verstanden.
»Wollen Sie meine Geschichte hören? Es macht mir nichts aus«, sagte sie. Und sie erzählte offen von ihrem Leben: von ihrem alkoholsüchtigen, gewalttätigen Vater, der sie, die Mutter und zwei Brüder verlassen hatte, als sie erst sieben war, und wie er in unregelmäßigen Abständen immer wieder in ihrem Leben aufgetaucht war, um nichts
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