Entrissen
übernehmen werde. Sie hatte einen halbherzigen Versuch unternommen, das Angebot abzulehnen.
»Nein«, hatte er gesagt, die Lesebrille noch auf der Nasenspitze, »mein letztes Seminar war um fünf zu Ende, und seitdem habe ich außer lesen und Wein trinken nichts getan.« Er hatte ihr in einen Sessel geholfen, als sei sie ein Invalide, ihr eine Zeitung gereicht und war, höchst zufrieden mit sich und seiner Fürsorglichkeit, in der Küche verschwunden. Sie hatte lächelnd eingelenkt.
Er ist so gut zu mir,
dachte sie bei sich.
Das Wohnzimmer ihres Hauses war voll mit Büchern, kuriosen Möbelstücken, Bildern, Pflanzen und Wandbehängen. Bei der Einrichtung hatten sie sich Mühe gegeben, ihren Besuchern - und sich selbst - den Eindruck zu vermitteln, dass sie interessante Leute waren, die ein großartiges Leben führten. Es war das genaue Gegenteil des Hauses, in dem sie aufgewachsen war. Aber als sie nun ans Fenster trat und hinaus auf den trägen, dunklen Fluss blickte, hatte Marina das Gefühl, als gehöre all das zu jemand anderem, nicht zu ihr.
Aus der Küche drang leise Musik herüber - leichte brasilianische Rhythmen, eine CD, die Tony gekauft hatte -, vermischt mit köstlichen Düften, die ihren Magen an jedem anderen Abend zu einem erwartungsvollen Knurren veranlasst hätten. Aber nicht heute. Sie nahm einen Schluck von ihrem Saft und verzog das Gesicht. Sie war enttäuscht von sich. Warum wollte sie etwas, was sie nicht haben konnte?
Unwillkürlich sah sie Claire Fieldings Leiche vor sich und die von Julie Simpson. Auch die anderen zwei Mordopfer. Phil hatte recht gehabt mit dem, was er über den Tatort gesagt hatte. Es war trostlos, als hätten sie nicht dort sein sollen. Weil das Leben längst weitergezogen war.
Phil. Sie hatte sich damals genau zurechtgelegt, was sie ihm sagen wollte, wenn sie sich das nächste Mal sahen. Immer wieder. Aber die Wochen waren verstrichen, und irgendwann hatte sie sich damit abgefunden, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Und vielleicht, hatte sie sich einzureden versucht, war es auch das Beste so. Sie war mit Tony zusammen, sie erwartete ein Kind und musste sich um ihre noch junge Praxis kümmern. Das Leben ging weiter. Oder zurück. Zurück in die Sicherheitszone.
Doch jetzt arbeiteten sie wieder zusammen. Und sie hatte nichts von dem, was sie sich überlegt hatte, über die Lippen gebracht. Denn jedes Mal, wenn sie auch nur an Phil dachte, sah sie Michael Fletchers Gesicht vor sich. Ihre verschlossene Bürotür. Jedes Mal stieg dann wieder die kalte Angst in ihr hoch. Es war einfach alles zu viel.
Ihr war erst bewusst geworden, in was für eine Routine sie verfallen war, als die Polizei sie zum Gemma-Hardy-Fall hinzugezogen hatte. Ohne dass sie es gemerkt hatte, war sie träge geworden. Alles drehte sich um ihren Job, ihre Rentenversicherungsbeiträge - und um Tony, ihren ruhenden Pol.
Aber sie hatte ja gar keinen aufregenden Mann gewollt. Vor Tony hatte es sie instinktiv immer wieder zu Männern hingezogen, die ihrem Vater ähnelten. Sie wusste, wie unreif - ganz zu schweigen von ungesund - dieses Verhalten war, aber trotzdem verfiel sie immer wieder in dasselbe Muster. Bis sie eines Tages in den Spiegel geschaut und sich ernsthaft gefragt hatte, was sie da eigentlich tat. Und festgestellt hatte, dass es so auf keinen Fall weitergehen konnte.
Dann war Tony in ihr Leben getreten. Ein guter Mensch, verlässlich und fürsorglich. Ein angenehmer, ausgeglichener Charakter. Er war alt genug, um ihr Vater zu sein, aber in jeder anderen Hinsicht sein genaues Gegenteil. Zwar jagten ihr keine Schauer der Erregung durch den Körper, wenn sie mit ihm zusammen war, aber sie fühlte sich bei ihm geborgen. Er war gut zu ihr. Und das, so sagte sie sich, war mehr, als viele andere Männer von sich behaupten konnten. Er bat sie um ein Date, sie sagte ja. Bald darauf waren sie ein Paar. Als Nächstes schlug er ihr vor, bei ihm einzuziehen, aus ihrer Wohnung mitten in der Stadt in sein Cottage nach Wivenhoe. Sie hatte es getan. Und fühlte sich wohl dabei. Zufrieden. Das hatte sie zumindest geglaubt.
Als man im Gemma-Hardy-Fall an sie herantrat, war sie bereit für eine neue Herausforderung. Und die bekam sie auch. Die Arbeit verlangte ihr alles ab und beanspruchte sie auf eine ganz neue Art und Weise. Zunächst war ihr ein wenig mulmig dabei, Sachverhalte, mit denen sie sich bisher ausschließlich in der Theorie beschäftigt hatte, auf die Praxis zu übertragen, noch dazu in
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