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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Carver
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In letzter Zeit war er sowieso fast immer schlecht gelaunt.
    Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Eigentlich hätte er schon zurück sein müssen. Er hatte gesagt, er wolle sich den Nachmittag freinehmen. In letzter Zeit war er verschlossener denn je. Er verbrachte mehr und mehr Zeit im Büro, und wenn er ausnahmsweise doch einmal zu Hause war, schnauzte er sie an. Ihr war aufgefallen, dass er sich neuerdings besser kleidete. Er hatte sich eine neue Frisur zugelegt und abgenommen. Wieder schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, er könne eine Affäre haben, doch im Moment hatte sie weder die Energie noch den Mut, sich damit auseinanderzusetzen.
    Sie nippte erneut an ihrem Tee, nur um gleich darauf das Gesicht zu verziehen. Untrinkbar.
    Sie stellte die Tasse auf dem Couchtisch ab, ließ sich zurücksinken und warf erneut einen Blick auf die Uhr. Graeme war wirklich spät dran ...
    Gerade in dem Augenblick, als sie dabei war, sich allerlei haarsträubenden Vorstellungen über den Grund seines Ausbleibens hinzugeben, schrillte die Türklingel. Sie seufzte. Wahrscheinlich hatte er den Schlüssel vergessen. Oder er wollte, dass sie ihm dabei half, die Einkaufstüten aus dem Auto ins Haus zu tragen. Egoist. In ihrem Zustand. Aber ein solches Verhalten war typisch für ihn.
    Sie hievte sich vom Sofa und watschelte schwerfällig vom Wohnzimmer in den Flur. Wieder wurde auf die Klingel gedrückt.
    »Ist gut, ich komme ja schon ...«
    Sie erreichte die Tür und drückte die Klinke herunter. Und dachte im selben Moment:
Graeme kann seinen Haustürschlüssel gar nicht vergessen haben, der hängt doch zusammen mit seinem Autoschlüssel an einem Schlüsselring.
    Sie öffnete die Tür vollständig. Es war nicht Graeme.
    Dann sauste der Hammer herab.
    Ihr letzter Gedanke: Wäre sie doch zum Friseur gegangen.
     

43
     
    »Warum sitze ich überhaupt hier, Clayton? Ich hab hier nichts zu suchen, das weißt du ganz genau. Du hast mir was versprochen!«, zischte Sophie Gale, beugte sich über den Tisch und sah Clayton herausfordernd an. Sie war wütend, das konnte er sehen. Aber er wusste, dass sich unter ihrer Wut noch etwas anderes verbarg. Er wusste bloß nicht, was.
    »Ja, ich weiß. Aber was soll ich denn machen? Wenn der Boss sagt, du musst mit aufs Revier, dann musst du mit aufs Revier. Du weißt doch, wie das läuft. Hör zu«, sagte er, beugte sich ebenfalls über den Tisch und sprach leise und beschwörend auf sie ein. »Mach dir keine Sorgen. Und gerat bloß nicht in Panik. Das ist die Hauptsache.«
    Sophie gab keine Antwort. Sie starrte ihn einfach nur feindselig an, die Arme vor der Brust verschränkt. So verharrte sie einige Sekunden, die Clayton wie eine Ewigkeit vorkamen.
    Clayton und Sophie saßen in einem Raum, der dem anderen, in dem Phil zur selben Zeit Ryan Brotherton vernahm, sehr ähnlich war. Dieselbe triste Farbgestaltung, dasselbe Licht, derselbe zerkratzte Tisch und dieselbe Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit. Nur der Spiegel fehlte. Das, fand Clayton, war immerhin etwas.
    Er hatte darum gebeten, Sophie selbst vernehmen zu dürfen. Um die Ermittlungen voranzutreiben, hatte er behauptet.
    Natürlich hatte man sein Anliegen abgelehnt. Er kannte die Regeln: Er war während der Arbeit an dem Fall angegriffen worden. Gegen den Täter würde Anklage wegen versuchten Mordes erhoben werden. Damit war er persönlich in die Angelegenheit verwickelt, und man hatte ihn von dem Fall abgezogen. Standardverfahren. Gehofft hatte er trotzdem.
    Also war ihm nichts anderes übriggeblieben, als sich heimlich Zutritt zum Vernehmungsraum zu verschaffen, um noch rasch mit Sophie zu sprechen, bevor Anni das Verhör übernahm. Ausgerechnet Anni! Er wusste, dass die Zeit knapp war und dass er und Sophie sich schnellstmöglich eine glaubwürdige Geschichte zurechtlegen mussten.
    »Ich bin so was von am Arsch«, verkündete Sophie schließlich.
    »Das bist du nicht«, widersprach Clayton. Aber der Satz klang selbst in seinen Ohren lahm.
    »Sei nicht dämlich«, gab sie zurück. »Wenn ich sag, dass Ryan an dem Abend, als seine Ex getötet wurde, mit mir zusammen zu Hause war, und ihr rausfindet, dass das nicht stimmt, geht ihr mir an den Kragen. Und wenn ich sag, dass er nicht zu Hause war, dann geht er mir an den Kragen. Ganz egal, was passiert, ich sitze in der Scheiße.« Sie lehnte sich zurück. »Vielen Dank.«
    Clayton wurde langsam, aber sicher wütend. Und er wusste, dass seine Wut dieselben Wurzeln hatte wie ihre: Angst.

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