Entrissen
Schieflage unserer Ehe verhieß meine Schwangerschaft, nachdem ich mich einmal mit ihr vertraut gemacht hatte, die innere Rettung für mich.
Allerdings wurde meine Situation für mich im Mai 1990 zur Belastungsprobe. Nach der gynäkologischen Untersuchung in der Schwangerenberatung schrieb der Klinikarzt mich umgehend bis zum errechneten Geburtstermin krank. Schon bei Julias Entbindung hatte der Arzt mir für die nächste Schwangerschaft empfohlen, untersuchen zu lassen, ob das kleine Wesen durch eine Erbkrankheit vorbelastet sein könnte. Diesen Vorsatz wollte ich jetzt in die Tat umsetzen. Doch für den Test benötigte der Genetiker eine Vergleichsblutprobe, und die konnte nur ein Mensch liefern – meine leibliche Mutter.
Der staatliche Zwangsapparat, der mein Dasein von Anfang an unbewusst dirigiert hatte, existierte kaum mehr, war handlungsunfähig, wurde abgewickelt. Damit musste nach Lage der Dinge auch der Gefängnisaufenthalt meiner Mama ein Ende gefunden haben, wenn sie ihn denn überlebt haben sollte. Ich hatte indes seit der Wende kaum noch einen Gedanken an sie verschwendet. Viel zu sehr war ich damit beschäftigt, mein Familienleben auf ein neues Fundament zu stellen. Es brauchte die Aufforderung eines Arztes, um mich wieder auf meine Herkunftsgeschichte zu stoßen. Die medizinische Notwendigkeit erst offenbarte mir die Lücke, die nach wie vor in meinem Leben klaffte. Oder hatte ich die Suche nach meiner leiblichen Mutter nur gescheut und die Gedanken an sie weggeschoben, weil ich unangenehme Wahrheiten fürchtete?
Insgeheim war ich froh, dass die Gesundheit meines Babys mich geradezu zwang, mich meiner eigenen Geschichte zu stellen. Der hilfsbereite Genetiker wies mir dazu einen Weg, der mir selbst gar nicht in den Sinn gekommen wäre: eine Nachfrage im Geraer Jugendamt nach der aktuellen Adresse meiner Mama. Es klang so einfach. Woher aber hätte ich wissen sollen, dass dort in irgendeinem Registerschrank mein »Vorgang« hing?
Das hieß allerdings nicht, dass ich selbst Erkundigungen über meine leibliche Mutter einholen durfte, schließlich war Mama rechtlich nicht mehr meine Mutter. Sie hatte das Sorgerecht für mich abgegeben, aus welchen Gründen auch immer. Als adoptierte Tochter einer anderen Frau stand ich für die Behörden gesetzlich in keinem Verwandtschaftsverhältnis mehr zu meiner Mama. Wir waren aus Datenschutzgründen einander entfremdet worden.
Mir blieb nichts anderes übrig, als meine Adoptivmutter um Amtshilfe zu bitten, die kurioserweise das Anrecht hatte, welches mir verwehrt blieb. Gleich nach dem Arztbesuch wählte ich von einer Telefonzelle aus die Nummer ihrer Nachbarn in Langenberg. Die freundlichen Anwohner klopften wie üblich an die Wand meines Adoptivelternhauses, und wenig später war Mutti am Apparat.
»Hör mal«, erklärte ich ohne Umschweife, »ich muss unbedingt wissen, was mit meiner leiblichen Mama ist. Ich brauch von ihr eine Blutprobe, damit die Ärzte eine genetische Untersuchung vornehmen können.«
Noch bevor ich ihr die Umstände näher erläutern konnte, sagte sie kurzerhand in ihrer zupackenden Art: »Ich ruf mal beim Jugendamt an.«
Nur wenige Tage später meldete sie sich zurück. »Wir können die Adresse gemeinsam abholen«, erklärte sie mir emotionslos.
»Danke!« Mehr brachte ich in jenem Moment nicht hervor.
Ich konnte es einfach nicht fassen: Was mir all die Zeit so aussichtslos erschienen war, sollte nun so schlicht möglich sein? Hieß das wirklich, dass meine seit Jahrzehnten für mich verschollene Mama wieder in mein Leben zurückkehren konnte?
Aufgelöst fuhr ich bei nächster Gelegenheit zu meiner Adoptivmutter nach Gera und begleitete sie zum Jugendamt, von dem ich mir den entscheidenden Hinweis auf meine Mama erhoffte. Doch an der Pförtnerloge ließ Mutti mich etwas verdutzt vor der Tür zurück. Ich fühlte mich in diesem Moment wie abgestellt, kam mir vor wie ein kleines Mädchen, das brav warten muss, während die Erwachsenen seine ureigenen Angelegenheiten regeln, ohne sich in die Karten blicken zu lassen. Wir müssen leider draußen bleiben.
Allerdings setzte ich mich nicht zur Wehr, dazu war ich zu konsterniert. Stattdessen grübelte ich, was dieser Behördengang erbringen würde. Würde ich bald Gewissheit haben über die Frage, die mich seit meiner Kindheit umtrieb: Wo ist meine Mama?
Da kam Mutti auch schon zurück aus dem grauen Amtsgebäude, in Begleitung einer zierlichen, älteren Dame. Wie häufig im Beisein
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